Beitrag zum Kreativ- und Schreibwettbewerb "Das ist mir was wert" von Rosalie Woelk, 25 Jahre
„Du stinkst.“ Timon schnüffelt noch einmal. Doch, der Gestank, dem er gefolgt ist, kommt von dem dünnen Mann mit den fleckigen Sachen. Zwei Reihen vor und ganz viele Sitze neben ihm sind frei.
Der Mann starrt auf den Boden, obwohl Timons Mama immer sagt, dass man Leute ansehen soll, wenn die mit einem reden. Vielleicht hat er ihn nicht gehört?
Timon tritt näher an die löchrigen Schuhe des Mannes heran. „Duschst du dich nicht? Meine Mama sagt, ich muss jeden Abend duschen. Selbst wenn ich gar nicht dreckig bin. Sie sagt, niemand will mit jemand spielen, der stinkt. Weißt du das nicht?“
„Jeh zurück zu deene Mama, Kleener.“
„Weißt du nicht, dass du stinkst?“
Der Mann atmet laut aus. „Doch, weeß ick.“
Timon wippt auf seinen neuen Schuhen hin und her. „Warum duschst du dann nicht? Ist deine Dusche kaputt?“
„Ick hab keene.“
„Hat nicht jedes Bad eine Dusche?“
„Ick hab ooch keen Bad. Oder 'ne Wohnung. Dit macht's schwer, rejelmäßig zu duschen und Sachen zu waschen.“ Der Mann reibt über seinen kratzigen Bart. „Deene Mama wird dit nich toll finden, dass de mit mir sprichst.“
Timons Mama in der ersten Reihe zeigt ihm, dass er zurückkommen soll. Er winkt und kniet sich auf den Sitz vor dem Mann. „Warum hast du denn keine Wohnung?“
Der Mund des Mannes zuckt. „Dir jehn wohl nie de Frajen aus?“
„Nö.“
Es piept laut und alle Leute sehen hoch auf die Tafel, aber Mama ruft ihn nicht, also ist ihre Nummer wohl nicht dabei.
„Ick hab keene Wohnung mehr, weil 'ne Menge Scheiß passiert is, und jetzt isses schwer, wieder eene zu kriejen.“
„Scheiß darf man nicht sagen.“
„Sacht deene Mama?“
„M-hm. Wo wohnst du denn dann?“
Der Mann zuckt mit den Schultern. „Im Zuch, auf Bahnhöfen, Parkbä—“
„Timon! Was machst du denn?“ Jetzt ist Mama rübergekommen. Müssen sie doch schon reingehen? „Komm, du kannst am Tablet spielen, bis wir dran sind.“ Sie nimmt seinen Arm, doch Timon hält sich an der Stuhllehne fest.
„Aber ich will weiter mit dem Mann reden. Du kannst mich ja rufen, wenn wir dran sind.“
„Timon.“
Mama klingt ungeduldig, dabei hat er gar nichts gemacht. Dem Mann hat sie auch nicht Hallo gesagt und ihre Nase zuckt so komisch.
„Soll ich nicht mit ihm reden, weil er stinkt?“
Mama sieht sich lächelnd um, obwohl gar keiner zu ihnen guckt. „So was sagt man doch nicht, Schatz. Komm, der Mann will in Ruhe warten.“ Wieder zieht sie an seinem Arm.
„Aber Mama, er würde ja gern duschen, aber er hat keine Dusche. Und auch kein Haus. Ist das nicht gemein?“
Mama presst die Lippen zusammen. „Dafür gibt es sicher Gründe. Wir gehen.“ Sie zerrt ihn vom Sitz.
Der Mann hat seine Arme verschränkt. „Jeh schon, Kleener. Du kannst mir nich helfen.“
„Helfen? Doch, kann ich!“ Timon strahlt. „Mama, der Mann kann doch bei uns duschen und seine Sachen waschen. Und schlafen kann er im Gästezimmer.“
Mama sieht ihn an wie damals, als er mal in eine Matschpfütze gesprungen ist. „Wir können doch keinen Fremden mit nach Hause nehmen.“
Sie sagt auch immer, dass er mit Fremden nicht reden und nicht zu ihnen ins Auto steigen soll. Will sie deswegen gehen? Timon hält dem Mann die Hand hin. „Ich bin Timon und das ist meine Mama und wer bist du?“
Der Mann sieht zwischen Timons Hand, seinem Gesicht und seiner Mama hin und her. „Lasse“, sagt er dann, ohne die Hand zu nehmen.
„Hallo Lasse.“ Timon grinst. „Jetzt ist der Mann kein Fremder mehr, Mama, jetzt können wir ihn mitnehmen.“
„Timon…“ Mama sieht seufzend zur Seite. Oh nein, das macht sie immer, bevor sie eine Dis-Kuh-Sohn mit „Darüber reden wir, wenn du größer bist“ beendet.
Timon macht sich groß. „Dann ist Lasse mein Monatswunsch.“
„Schatz, jetzt aber wirklich...“
„Deen wat?“ Lasse runzelt die Stirn.
„Mein Monatswunsch“, sagt Timon, stolz auf seine Idee. „Mein Papa verdient ganz viel Geld, aber er geht lieber lange arbeiten als mit uns zu Hause zu sein und weniger Geld zu haben. Also geben wir jeden Monat was ab und ich darf aussuchen, an wen.“
„M-hm...“
„Und wenn ich dich aussuche, ist das noch viel toller, weil du eine Dusche brauchst und kein Geld. Wir nehmen dich mit nach Hause und geben jemand anders Geld.“
Lasse erwidert sein Grinsen mit schiefen Zähnen. „Ick glob nich, dass dit so funktioniert, Kleener.“
„Doch, genauso geht das.“ Timon sieht zu Mama auf. „Mama sagt immer, man muss helfen, wenn man kann, und wir können ja.“
Mama öffnet den Mund, schließt ihn wieder und zieht einen orangen Geldschein aus ihrer Handtasche. „Hier.“
Lasse sagt nicht Danke und nimmt das Geld nicht; er beißt nur so doll die Zähne aufeinander, dass sein Gesicht noch kantiger wird.
„Kann Lasse sich damit eine Wohnung mit Dusche kaufen?“
Mama wendet sich mit einem leisen Schnauben zu Timon. „Nein, Schatz, aber für Essen, duschen und den Waschsalon reicht es.“
„Aber das kann er doch auch bei uns.“
Mama streicht ihm über die Haare. „Das wäre aber nicht gerecht, wenn wir den anderen nur Geld geben und er bei uns wohnen kann, oder?“
Timon schiebt die Unterlippe vor. „Die anderen kennen wir ja auch nicht. Lasse kann einfach der Erste sein. Wenn er wieder eine Wohnung hat und jemand ande—“
„Schluss damit.“
Timon verzieht das Gesicht. „Aber—“
„Timon Wilhelm!“
„Ick komm schon klar, Kleener.“
Wieder piept es.
Timon starrt auf den Boden. „Aber du stinkst und hast keine Dusche und niemand will mit jemand spielen, der stinkt!“
„Das ist unsere Nummer“, sagt Mama. „Gehen wir.“ Sie nimmt Timons Hand und zieht ihn mit sich.
Timon reißt sich los. „Du hast Lasse das Geld nicht gegeben!“
Mama atmet schwer aus. „Na schön. Aber beeil dich.“
Er läuft zurück und hält Lasse das Geld hin. „Ich hoffe, du kriegst bald eine Wohnung mit Dusche.“
„Danke.“ Lasse nimmt es mit einem schiefen Lächeln.
Winkend rennt Timon nach vorn, wo Mama schon die Tür aufhält. „Denkst du, die geben Lasse eine Wohnung, wenn er dran ist, Mama?“
„Bestimmt, Schatz. Die Leute hier sind sehr hilfsbereit.“
„Gut.“
Wenn Mama das sagt, wird alles gut werden und Lasse wird nicht mehr lange stinken und allein sein müssen.
Die Tür fällt hinter ihnen zu. Es riecht nach Kaffee und Zitrone.
Timon lächelt.