Beitrag zum Kreativ- und Schreibwettbewerb "Das ist mir was wert" von Selina Stodiek, 16 Jahre
Ruby wünschte sich in diesen Momenten jedes Mal mit einem Mädchen mit normalem Sehvermögen tauschen zu können. Sie findet es nicht schlimm blind zu sein. Nur die Menschen, die sie behandeln, als wäre sie eine andere Spezies und als müsse man besonders vorsichtig mit ihr umgehen, kann sie nicht ausstehen. Es fühlt sich an, als wäre sie ein kleines Päckchen mit der Aufschrift „Vorsicht zerbrechlich!“ auf dem Kopf einer Seiltänzerin, die über einer Schlucht balanciert. In ihrer Gegenwart wissen fremde Leute nicht, wie sie sich ihr gegenüber verhalten sollen, dabei möchte sie behandelt werden, als gäbe es keinen Unterschied zwischen ihr und Gleichaltrigen. Am Schlimmsten ist es, wenn andere einem Nichts zutrauen oder einem bemitleiden. Schließlich kennt Ruby es nicht anders und ist sehr zufrieden mit ihrem Leben. Man kann von Glück reden, dass der Arzt bei ihrer Atemnot als Frühchen vor 12 Jahren schnell gehandelt hat. Ihre Mutter hatte damals große Angst, was aus ihrer Tochter werden sollte, noch dazu auf einem Planeten, der sich jedes Jahr mehr erwärmt. Ganze Inseln wie die Phillipinen werden überflutet und die immer heftigeren Buschfeuer gefährden die Gesundheit oder gar das Leben. Ruby darf nicht alleine zur Schule gehen. Alice hat Angst, dass ihr etwas zustößt und macht sich Sorgen. Ruby ist ihr einziges Kind und sie liebt sie über alles. Doch Ruby findet es lästig und möchte mehr Freiheiten wie die anderen Mädchen der Auburn primary school, einer normalen Schule, haben. Nun sitzt sie vor ihrer Klassenlehrerin an diesem schwülen Dezembertag auf einem der Sitzkissen unter einer schattenspendenden Akazie im Schulgarten. Das 12-jährige Mädchen mit den langen, rotbraun gelockten Haaren ist in der 6. Jahrgangsstufe und wird nach den Sommerferien auf eine High School gehen. Viele Wege werden sich trennen und viele weiterhin bestehen. Die Schüler haben beschlossen zum Abschied einen Wochenendausflug nach Mornington Peninsula zum Gunnamatta Beach zu unternehmen, um dort einen Surfkurs zu machen. Am vorletzten Schultag wird es dann einen großen Schulball geben, bei dem die ganze Familie eingeladen ist.
„Ruby, ich denke, dass du nicht surfen wirst“, sprach Misses Moore das an, was Ruby sich schon gedacht hatte. „Ich habe mit dem Anbieter gesprochen, aber er meint er könne es aus Sicherheitsgründen nicht verantworten. Man bräuchte dazu einen extra Lehrer, der sich nur um dich kümmert, doch den haben sie nicht“.
„Na toll, das ist so was von blöd. Aber ich brauch gar niemanden, der auf mich aufpasst. Ich komme auch mit einem normalen Surflehrer zurecht, denn ich kann mich alleine orientieren und brauche keinen, der mir hilft“, sagt Ruby. Seit sie vier Jahre alt ist findet sie sich mit dem Klicksonar zurecht. Ihre Eltern hatten extra einen blinden Lehrer aus den USA anreisen lassen, weil es in Australien verboten ist, sich als blinder Mensch zum Blindenlehrer auszubilden. Dabei verstehen diese am besten andere Leute mit Sehbehinderung. Klicksonar ist eine Technik, bei der man schnalzt und durch das zurückgesendete Echo sich ein genaues Bild davon machen kann, wie die Umgebung in einem Umkreis von 150 Metern aussieht, so wie es auch Fledermäuse und Delfine tun. Man sieht durch Geräusche und kann unterscheiden, ob man gerade auf eine Tür zugeht oder auf eine Hausecke. „Ja, aber glaub mir. Im Wasser ist das etwas ganz anderes. Das Meer ist unberechenbar und wenn du von einer Welle erfasst wirst, wäre das ein Problem!“, widerspicht die Lehrerin. „Wir können unseren Ausflug natürlich auch an einen anderen Strand verlegen, aber ich habe nachgeschaut und an keinem Strand in der Nähe wird ein Surfkurs für blinde Menschen angeboten“. „Mhmpf“, grummelt Ruby ärgerlich und verzieht den Mund. „Und was soll ich dann die ganze Zeit machen während die anderen ihren Spaß haben? Dann kann ich ja gleich daheim bleiben, sonst sitze ich da ganz alleine rum“. „Das wäre aber sehr schade, findest du nicht? Ich überlege mir da noch etwas für dich. Vielleicht könnten wir zwei etwas gemeinsam unternehmen. Surfen ist keine passende Sportart für mich!“, versucht Misses Moore sie zu übereden. Super, mit der Lehrerin alleine einen Ausflug zu machen. Besser hätte es nicht kommen können, denkt sich Ruby. Misses Moore mag ja ganz nett sein, aber mit ihr alleine und ihren vielen Fragen fühlt sie sich doch sehr unwohl.
„Aber ich wollte mit dir noch über eine andere Sache sprechen. Ich sehe jedes Mal wie deine Mutter dich zur Schule bringt und versucht dir alle Aufgaben abzunehmen. Klar, kann ich sie verstehen, aber so wirst du nie selbstständig und traust dich nicht Dinge auszuprobieren. Nächstes Schuljahr wird es auch nicht leichter und der Schulweg wird länger. Ich würde gerne mit deiner Mutter über eine Schulbegleiterin sprechen. Das wäre ein Schritt zur Besserung ohne, dass es dir vor deinen Mitschülern wegen deiner Mutter peinlich sein muss. Die Tochter meiner Freundin möchte ein Freiwilliges Soziales Jahr machen und würde sich dafür anbieten. Du musst deine Chancen nutzen. Leider gibt es in der heutigen Zeit viel zu wenige Möglichkeiten und Angebote für blinde Menschen, doch gerade deswegen muss man dafür kämpfen, muss man einen Weg finden sich Gehör zu verschaffen.“
Sommer 2038- 6 Jahre später
„Wir haben Zeit“, flüstert Oliver Ruby ins Ohr und ihr Freund streicht mit seinen Fingern zärtlich über ihre Wange. Aufgeregt lauscht sie den Stimmen der Pressevertreter und des Fernsehteams.
„Ganz ruhig. Vertrau mir“, sagt er und greift nach ihrer Hand. „Ja, ich vertraue dir. Ich vertraue dir mein Leben an“, meint Ruby und lacht nervös, „Das ist es mir wert. Ich bin bereit und möchte für meinen Verein ein Zeichen setzen“. Ruby drückt seine Hand und tritt einen Schritt vor. „Achtung, drehfertig machen!“, hört man eine männliche Stimme rufen. Beide stehen am Rand einer Klippe und tief unten glitzert das Meer im Sonnenschein. Ruby drückt Olivers Hand fester. „Eins..., zwei..., drei...“, sagt sie leise. „Und go!“, rufen sie, lachen und springen.