Beitrag zum Kreativ- und Schreibwettbewerb "Das ist mir was wert" von Julia M. Sternecker, 21 Jahre
Ich erinnerte mich an Weihnachten, dem einzigen Tag im Jahr, an dem die Menschen gütig und hilfsbereit waren.
Nur in diesem Wintermonat, wenn die erbarmungslosen Straßen mit ewiger Kälte und die Herzen der Menschen mit Güte gefüllt waren, prasselte Nächstenliebe auf mich ein, und die Freude über die Aufmerksamkeit erfüllte und wärmte mein Herz. Wenn man wie ich so lange auf der Straße gewohnt hat, achtete man auf Kleinigkeiten, jeden Blick in die Augen und jedes warme Lächeln.
Tag für Tag sah ich so viele Menschen an mir vorbeigehen, die Köpfe gesenkt. Manche wendeten sogar den Blick ab, wenn sie schnellen Schrittes an mir vorübergingen.
Tag für Tag sah ich so viele Menschen, doch die Menschlichkeit fehlte.
Wäre jeden Tag Weihnachten, müsste ich niemals hungern, frieren, mich unerwünscht fühlen.
Aber so selten wurde ich wirklich als Mensch angesehen, ich war dabei, die Hoffnung aufzugeben, eingeschlossen in einer kalten Welt.
Als die Glocken der Kirche mir ihre vertraute Melodie spielten, die Harmonie aus tiefen und hohen Tönen mein Ohr erfüllte, wusste ich, dass es jetzt an der Zeit war zu gehen.
Ich sträubte mich gegen den Gedanken, das Gefühl, ein Zuhause zu haben. Ich war nicht zuhause, nicht auf der Straße und nicht in diesem Leben.
Ich atmete ein, fühlte die kühle Abendluft dieses Apriltages in meinen Lungen und stieß sie wieder aus, beobachtete die leichten Dampfwölkchen, die sich in wirbelnden Kreisen im rötlich gefärbten Himmel verloren.
Dann stand ich auf, sammelte meine wenigen Habseligkeiten ein und ging mit langsamen Schritten in die Richtung meines Schlafplatzes.
Die wenigen Münzen, die ich heute erbettelt hatte, schepperten bei jedem Schritt in der kleinen Dose in meiner Tasche.
Ich hatte keine Eile, ich hatte alle Zeit der Welt und nichts, weswegen ich schneller gehen sollte. Ich hatte keine Familie, keine Frau die mich küsste, wenn ich nach Hause kam. Ich ging nur diese Straße entlang, die sich im leichten Dunst der Kälte in der Ewigkeit verlor. Genau so stellte ich mir meinen Lebensweg vor: Ohne Ausblick in die Zukunft, ohne Ausblick auf das Ziel.
Plötzlich hörte ich ein feines Geräusch, ein helles Glöckchen, als wäre hinter mir eine Ladentür geöffnet worden.
Ich war so in meinen Gedanken versunken gewesen, dass ich nicht wie sonst in die Schaufenster der Läden geschaut und von einem besseren Leben geträumt hatte; mit dem Gesicht nahe an der Scheibe. Aus dem Augenwinkel meinen Atem am Glas pulsieren sehend, der meine Welt für einen Moment noch trüber und unklarer werden ließ.
„Abraham?“, hörte ich eine Frauenstimme hinter mir sagen. Ewige Jahre lang hatte mich niemand bei meinem Vornamen genannt.
Fast schien es mir so, als hätte ich ihn selbst über die Zeit vergessen, nicht mehr wissend, wer ich wirklich war. Langsam drehte ich mich zu der Frau um, die mich anstrahlte, als sie mein Gesicht erkannte. Ich brauchte einen Moment, bis ich wusste wer sie war.
Wir waren früher zusammen auf eine Schule gegangen, vor vielen, vielen Jahren.
„Es ist so schön, dich wieder zu sehen!“, fuhr sie begeistert fort und überbrückte die wenigen Meter Abstand zwischen uns. Bevor ich etwas erwidern oder protestieren konnte, hatte sie mich schon in eine warme Umarmung geschlossen. Sie löste sich wieder von mir, als sie merkte, dass ich diese nur schwach erwiderte. Für einen Momente herrschte Stille zwischen uns und wir sahen uns nur in die Augen.
„Du hast dich verändert“, meinte sie dann mit gerunzelter Stirn. „Ja, ich ... ich weiß“, mehr als ein leises Stottern brachte ich nicht heraus, „es tut mir leid.“
„Bitte ...“, sie unterbrach mich mitten in meinem Satz, „Du musst dich doch nicht dafür entschuldigen, wer du bist. Dein Äußeres sagt mir nichts über den Inneres. Und ich weiß, dass du ein guter Mensch bist. Du musst dich für nichts entschuldigen.“
Gerne hätte ich geantwortet, irgendetwas gesagt, was meine Gefühle ausdrücken könnte. Doch dafür gab es keine Worte, es reichte ein Blick aus meinen vor Rührung und Freude verzerrten und glänzenden Augen und sie wusste, was ich ihr sagen wollte.
„Komm“, meinte sie dann und drehte sich halb zurück in die Richtung, aus der sie gekommen war, „in meiner Konditorei habe ich noch ein Stück Kuchen für dich und eine Tasse Kaffee wird sich bestimmt auch noch finden.“
Heimlich wischte ich die Tränen, die sich die letzten Jahre angestaut hatten, aus meinem Augenwinkel und folgte ihr in die hell erleuchtete und aufgewärmte Konditorei. Ich hängte meine Jacke an einen freien Haken an der Wand und sah mich in dem Raum um. Der Laden war fein im französischem Stil dekoriert, nur ich wirkte in ihm wie ein gigantischer Fremdkörper.
„Setz dich doch, Abraham“, forderte sie mich strahlend auf, „du musst mir erzählen, was du in den letzten Jahren alles erlebt hast.“ Sie stellte einen Teller mit einem köstlich aussehenden Kuchen vor mir auf den Tisch und setzte sich daneben.
Ich hatte immer noch das Gefühl zu träumen, als ich den Tisch umrundete, um mich auf meinen Platz zu setzen.
Mein Blick fiel auf das Schaufenster und ich konnte den Namen der Konditorei lesen.
Cafe Goldenes Herz.
Da wusste ich, dass es noch Menschen gab, die immer Güte und Liebe in ihrem Herzen trugen.