Beitrag zum Kreativ- und Schreibwettbewerb "Das ist mir was wert" von Hanneke, 16 Jahre
Ich blicke in die Augen des Mädchens, welches mir gegenübersitzt. Ihre Augen strahlen Ehrlichkeit aus und ich habe das Bedürfnis in dieses tiefblaue Meer des Funkelns einzutauchen. Das Faszinierende an ihr ist jedoch nicht die Farbe ihrer Augen, sondern ihre Lebenseinstellung und ihre Wirkung auf mich. Normalerweise würde ich jetzt auf der Schultoilette sein, mich über deren unzumutbaren Zustand aufregen und dabei meinen, natürlich farblich auf mein Oberteil abgestimmten Lippenstift, nachziehen. Wie genau es dazu kam, dass ich freiwillig Zeit mit dem unbeliebtesten Mädchen unserer Klasse verbringe, kann ich selbst nicht genau sagen.
Sie kam am Anfang des Schuljahres neu in unsere Klasse. An dem ersten Schultag nach den Sommerferien schien die Sonne besonders heiß durch die ungeputzten Fenster. Schüchtern saß sie neben unserem Klassenlehrer in ihrem Rollstuhl und traute sich nicht ihren Blick vom Fußboden in den von Schülern überfüllten Klassenraum aufzurichten. Obwohl niemand von uns Schülern mehr als ihr Äußeres kannte, wurde sie von jedem Einzelnen direkt abgestempelt und in die unterste Schublade gesteckt, so als handele es sich um einen Brief und nicht um ein Mädchen mit Gefühlen und einem eigenen Charakter. Sie wurde von jedem nur „die Neue im Rollstuhl“ genannt, so als wäre sie es nicht Wert einen richtigen Namen zu besitzen. Nicht selten suchte ich zusammen mit Luana und Nia, das Mädchen im Rollstuhl auf, um sie zu beschimpfen, sie auszulachen oder ihr zu sagen, wie dumm sie doch sei, weil sie im Rollstuhl saß. Dass sie absolut nicht dumm, sondern um ein Vielfaches intelligenter als der Großteil von uns war, war uns hierbei egal. Wir kümmerten uns nicht um das Leben eines Mädchens, das uns körperlich unterlegen war.
An jenem Tag, an dem sich meine Sicht der Dinge drastisch wandeln sollte, stand ich wie in jeder Mittagspause in der überfüllten Mensa. Ich warf einen kurzen Blick auf den runden, grauen Tisch in der hintersten Ecke. An diesem Platz hatten meine Freundinnen und ich jede einzelne Mittagspause der letzten Schuljahre verbracht. Doch nun musste ich mit Erschrecken feststellen, dass dieser Tisch, von dem jeder wusste, dass er die Rolle unseres Stammtisches eingenommen hatte, besetzt war. Ich konnte es nicht fassen. Von meinem Standpunkt aus konnte ich nicht genau erkennen, wer sich an den Tisch gesetzt hatte, doch das sollte sich gleich ändern.
Wutentbrannt stapfte ich mit erhobenem Kinn und wippendem blonden Pferdeschwanz in Richtung des ersehnten Tisches. Mit einem kurzen Blick nach hinten fiel mir auf, dass es meinen beiden Freudinnen scheinbar genauso ging wie mir, denn Luana und Nia folgten mir mit schnellen Schritten. Sie blickten plötzlich ungläubig mit halbgeöffnetem Mund in Richtung des Tisches und schien erstaunt und empört zugleich über das Bild, welches sich ihnen bot. Ich verlangsamte meine Schritte und war nun auf der Höhe meiner Freundinnen, welche stirnrunzelnd in die hinterste Ecke der Mensa schaute. „Was ist?“, fragte ich sie ungeduldig, doch noch im selben Moment konnte ich die Frage selbst beantworten. Der Stuhl mit der verblassten roten Farbe, welcher mit der Zeit mein persönlicher Pausensitzplatz geworden war, stand nicht an seinem Platz. Stattdessen schmückten vier Rollen, die zu einem blauen Rollstuhl gehörten, die Stelle an der eigentlich die Füße des Stuhles hätten stehen sollen. In dem Rollstuhl saß ein Mädchen. Ihre braunen Haare fielen in leichten Wellen über ihre schmalen Schultern. Sie sah mit ihren dunkelblauen Augen auf den Teller, der vor ihr auf dem Tisch stand. Als ich realisierte, dass es das Mädchen im Rollstuhl war, die uns unseren Stammplatz verwehrte, wurde meine Wut noch größer. In schnellen Schritten ließ ich die Entfernung zwischen mir und dem Mädchen im Rollstuhl geringer werden, bis ich schließlich vor dem Tisch zum Stehen kam.
Als das Mädchen bemerkte, dass ich vor ihr stand, zuckte sie nicht wie sonst zusammen und blickte auch nicht schüchtern auf einen undefinierbaren Punkt hinter mir. Nein, sie tat etwas, womit ich nicht gerechnet hätte und was meine sorgfältig geplante Ansprache in Vergessenheit geraten lies. Sie wich meinem Blick nicht wie gewohnt aus, sondern schaute mich mit ihren stechend blauen Augen direkt an. „Warum?“, fragte sie mich. Dieses eine Wort löste Verwirrung in mir aus. Ich verstand nicht, was sie mir damit sagen wollte. Düster funkelte ich mein Gegenüber an. „Warum was?!“, fragte ich mit einem schneidenden Unterton in der Stimme. Auf meine Frage folgte Stille, die mich daran zweifeln ließ, überhaupt noch eine Antwort zu bekommen. Später aber wurde mir bewusst, dass es sie sehr viel Mut und Überwindung gekostet haben musste, die folgenden Worte auszusprechen. „Warum ist es so schlimm, dass ich anders bin?“ Sie schluckte. „Warum nehmt ihr euch das Recht zu entscheiden wer normal ist und wer nicht? Bin ich deiner Meinung nach weniger wert, nur weil ich im Rollstuhl sitze?“ Ich war sprachlos. Das Mädchen mit den wunderschönen Augen hatte jedoch alle Schüchternheit abgelegt und begann, angetrieben von der Tatsache, dass ich sie bisher noch nicht einmal unterbrochen hatte, schon wieder mutig und bestimmt zu sprechen. „Kein Mensch ist wie der Andere und gerade das ist das Besondere. Wahrscheinlich hast du das schon hundert Mal gehört und ich denke nicht, dass es etwas an deiner Denkweise ändern wird, wenn ich es dir noch ein weiteres Mal sage, aber dann habe ich wenigstens nicht weiterhin schweigend zugesehen. Ich habe keine Ahnung, warum du so handelst. Aber ich weiß, dass du besser als das bist. Du bist kein schlechter Mensch. Ich glaube sogar, dass du ziemlich warmherzig sein kannst.“ Nun lächelte sie mich ermunternd an und dieses Lächeln spiegelte sich in ihrem ganzen Gesicht wider. Ich spürte, wie mir die Tränen in die Augen stiegen. All die Zeit hatte ich nicht ein nettes Wort für das Mädchen übrig, welches mir gegenübersaß. Ich hatte es nicht einmal als nötig angesehen, sie mit Respekt zu behandeln. Und dieses Mädchen sagte mir nun, dass sie glaubt, ich könnte ein warmherziger Mensch sein. Noch nie in meinem Leben hatte ich mich so schlecht gefühlt.
Ich sah, wie sie den leeren Teller und das Glas auf ihren Schoß nahm und fasste sie an ihrer Schulter. Sie drehte sich langsam zu mir um und ich blickte in ihr erstauntes Gesicht. Nun war es an mir tief einzuatmen und ihr in die Augen zu sehen: „Wahrscheinlich hast du nicht mit einer Antwort von mir gerechnet“, sagte ich mit zittriger Stimme. Mit einem Mal war alles um mich herum unwichtig geworden. Der Lärm der anderen Schüler, Luana und Nia, der Tisch, das alles schien jetzt nichtig und klein. „Mein Verhalten dir gegenüber ist nicht zu entschuldigen. Das war widerwärtig und gemein.“ Meine Stimme brach ab, ich musste mehrere Male schlucken, „Ich bewundere dich. Du bist ein wundervoller Mensch und ich schäme mich dafür, dass nicht eher erkannt zu haben. Ich verdiene es nicht, dass du so freundlich zu mir bist.“ Meine Worte gingen im Schluchzen unter, denn ich konnte meine Tränen nicht länger zurückhalten.
Plötzlich spürte ich wie jemand sanft meine Hand drückte. Als ich aufsah blickte ich in das Gesicht des Mädchens, welches mir aufmunternd zulächelte. „Auch wenn das vielleicht kitschig klingt“, sagte sie leise, „ich denke, dass jeder verdient, dass das Gute in ihm gesehen wird. Gerade dann, wenn er es selbst vielleicht nicht sehen kann. Wie wäre es mit einem Neustart?“ fragte sie schließlich „Ich heiße Marlene.“ Ihre Stimme klang freundlich. Lächelnd und dankbar ergriff ich ihre Hand. Diese Geste war der Beginn einer wahren Freundschaft. Zwar bedeutete dies auch das Ende der Freundschaft zwischen Luana, Nia und mir, aber das war es mir wert.