Ich habe kein Herz
von Claire Stark
Ich habe kein Herz.
Ich habe einen kleinen Kessel.
Er ist dunkel-violett-schimmernd
und er blubbert,
er hüpft manchmal auf und ab
und manchmal, da läuft er über.
Dann schwappt eine große Welle
durch meinen Körper.
Eine Welle voll Liebe.
Eine Welle voll Zuneigung.
Eine Welle voll Dankbarkeit.
Eine Welle voll Beschützerinstinkt.
Eine Welle voll In-den-Arm-nehmen-wollen.
Sie schwappt von meinem kleinen Kessel
- links-mittig in meiner Brust –
bis in die Fingerspitzen,
bis in die Zehenspitzen,
bis in die Haarspitzen.
Von da breitet sie sich aus,
in großen Wellen in den Raum hinein,
in Ringen, wie wenn man Steine ins Wasser geworfen hat.
Bis die Ringe anstoßen,
an der Wand,
am Fenster,
an der Tür.
Aber wenn du da bist,
dann hüllen sie dich ein.
Auch wenn du nur am Telefon da bist,
oder im Chat.
Sie hüllen dich ein,
und mir wird ganz warm,
und dir hoffentlich auch.
Plötzlich lächle ich ganz doll,
obwohl ich sonst nicht so viel lächle.
Du bist eingepackt
in eine violett-schimmernde Hülle aus Liebe.
Du bist meine Mutter, mein Vater.
Du bist mein Bruder.
Du bist mein Mann.
Du bist mein bester Freund.
Du bist meine Freundin.
Du bist jemand, mit dem ich erst ganz kurz,
aber ganz dicke befreundet bin.
Manchmal bist du jemand,
mit dem ich fast gar nichts zu tun habe.
Aber gerade warst du für mich da.
Denn in meinem kleinen Kessel
ist genug Liebe für alle.
Warum bist du so ehrlich?, fragst du.
Warum bist du so offen?
Warum machst du dich angreifbar?
Weil ich es leid bin,
meine Maske zu tragen.
Weil ich verletzt wurde
und es überlebt habe.
Weil es sich lohnt.
Weil sich jedes Risiko lohnt,
wenn der mögliche Gewinn jemand ist,
der mehr als nur eine Hand für mich ins Feuer legen würde.
Ich habe kein Herz.
Ich habe einen kleinen Kessel.
Er ist dunkel-violett-schimmernd
und er blubbert.