Soweit

von Lina

Sie setzt sich auf die alte Bank, auf die sie gerade so zu zweit passen. Den Blick auf das schöne Meer gerichtet. Es ist noch früh am Morgen, die Sonne steht noch nicht hoch am Himmel und eine sanfte Brise bläst ihr durch das lange weiße Haar. Tief atmet sie die vertraute salzige Luft ein und aus. Ganz ruhig sitzt sie dort, still. Sie kann ihn hören, bevor sie ihn sieht. Seine schweren Stiefel klingen laut auf dem Weg am Haus vorbei, hinunter zu dem Strand. Neben ihr bleibt er stehen, sie schaut ihm in die Augen. Er trägt seine Uniform, pflichtbewusst, wachsam und pünktlich.

„Es ist ein schöner Tag“. Beginnt er. Sie nickt, sie weiß was er will. Die Frage ist stets dieselbe, seit er weg ist. „Ich werde hierbleiben, Officer. Dies ist mein Zuhause, mein Meer. Es würde ihm das Herz brechen, wenn ich unser Haus verlassen würde.“ Der Polizist nickt, als könnte er es verstehen. Sie wendet ihr Gesicht dem Meer zu und verliert sich in dem Glitzern und der Schönheit. Der Polizist spricht über Einsamkeit nach dem Tod einer geliebten Person, andere nette Leute in ihrem Alter und einem schönen Haus, in dem sie wohnen könnte, wo sie nicht alleine ist. 

„Ich werde hierbleiben, Officer. Dies ist mein Zuhause, mein Meer. Es würde mir das Herz brechen, wenn ich dieses nicht mehr jeden Tag sehen könnte.“ Die Kraft der Sonne steigt, es würde ein wunderbarer warmer Tag werden. Der Polizist nuschelt etwas von stur, verabschiedet sich und macht sich auf den Weg zurück in das kleine verschlafene Dorf. Sie bewegt ihre Füße leicht, so dass ihre nackten Zehenspitzen über die grauen Steine streichen. Wie oft haben sie die Steine über das Meer hüpfen lassen. Sie hat ihn immer bewundert, wie sanft er es tat und wie weit die Steine flogen. Vier kleine Kinder rennen an ihr vorbei und werfen sich in die blaue Flut und lachen sorgenlos, frei und unbeschwert. Die junge Mutter setzt sich neben sie auf die viel zu kleine Bank.   
„Wir hatten nie Kinder. Es ging nicht“, erklärt die alte Frau. Die vierfache Mutter nickt und nimmt die faltige Hand in ihre. Feinfühlig, gutmütig und fähig. Still schauen sie den kleinen Kindern beim Spielen im Meer zu. Sie kannte nur all zugut dieses Gefühl, unter dem Wasser zu sein. Es war dann ganz still und intim, weil es nur sie beide gab, das Meer und sie. 
„Vermissen Sie ihren Mann?“ „Jede einzelne Sekunde, doch wenn ich auf das Meer sehe, fühlt es sich so an, als wäre er noch bei mir. Als er das letzte Mal hinausfuhr, als er mich das letzte Mal ansah, da waren seine Augen so voller Liebe. Er sagte es nicht, das brauchte er nicht, wir wussten es beide.“ Sie lächelt. Bewundernd nimmt die junge Frau sich vor, dass Leben zu genießen, so wie sie es auch tut, jeden einzelnen Tag. Dann ruft die junge Mutter ihre Kinder aus dem unendlichen Gewässer und sie machen sich auf den Weg nach Hause.   
Sanft schlägt die aufschäumend Gischt gegen das kleine Boot. Vereinsamt liegt es dort auf den vielen Steinen und das Wasser leckt ab und zu daran. Als würde es versuchen, das Boot zu sich zu ziehen, so wie es früher jeden Tag hinaus gerudert wurde. Die Sonne ging auf und sie sah ihn und das Boot hinaus auf das Wasser rudern, die Sonne ging unter und sie sah ihn und das Boot zurück zu sich rudern. Jeden Abend aufs Neue stand sie am Strand und wartete, voller Sehnsucht. 
                                                                                         
„Darf ich mich zu Ihnen setzen?“ Sie zuckt zusammen, der stämmige Mann verdeckt mit seinem Kopf die Sonne, die ihren höchsten Stand erreicht und unbarmherzig auf sie herab brennt. Ohne auf eine Antwort zu warten, quetscht er sich neben sie. „Meine Frau und ich hatten einen bösen Streit, ich bin verzweifelt, was soll ich nur tun? Sie treibt mich in den Wahnsinn, schreibt mir immer vor, was ich zu tun und zu lassen habe. Versuche ich es so wie sie zu machen, soll ich eigenständiger werden. Mache ich es so wie ich möchte, soll ich mir ein Beispiel an ihr nehmen. Ich meine, wir sind erst seit zwei Jahren verheiratet, sollte es nicht immer noch so sein, als schwebten wir auf Wolke sieben? Ich weiß, dass völlig normal ist, dass man sich streitet. Doch meine Frau und ich diskutieren nur noch. Kein vernünftiges Gespräch bekommen wir mehr zu Stande. Komme ich abends nach Hause, geht sie mit ihren Freunden aus. Kommt sie am frühen Morgen, nach der Nachtschicht, aus dem Krankenhaus, gehe ich auf Arbeit. Vor zwei Monaten sind wir in dieses gemütliche kleine Haus gezogen, du weißt doch, dass neben der Bäckerei, in der dein Mann jeden Morgen, noch vor dem Sonnenaufgang die...“ Er verstummt plötzlich und atmet tief aus. Sein Körper ist erschöpft, angespannt und müde. 
„Die Liebe zu einem anderen Menschen erfüllt uns, sie erfüllt dich und deine Frau, den Polizisten, den Bäcker und sie erfüllt mich jeden Tag, mach dir darüber keine Sorgen.“ Der Mann denkt über die beruhigenden Worte nach.                                     
„Danke, für alles.“ Langsam nickt sie. Dann macht der stämmige Mann sich mit langen Schritten auf den Weg über die Steine nach Hause. Sie schaut ihm kurz nach und wendet sich wieder ihrem Zuhause zu. Wenn sie hier sitzt und hinausschaut, dann steht die Zeit still, sie kennt keine Eile. Für immer wird sie das Mädchen sein, dass jedes Mal das Meer ansieht, als wäre es das erste Mal. Kurze Beine laufen zu ihr herunter, als er bei ihr ankommt, streift er seine Schuhe ab und hüpft durch das flache Wasser. Es ist der Junge von nebenan, dessen Eltern ständig arbeiten. „Weißt du, ich kann nicht schwimmen“, erklärt er und schiebt sich zu ihr auf die Bank. Für sie zwei ist sie nicht zu klein. Seine nassen Füße tropfen auf die grauen Steine und färben sie dunkel. „Ich habe Angst, dass das Meer mich nach unten zieht und ich keine Kraft mehr habe, nach oben zu schwimmen.“ Sie sagt nichts, hört einfach zu.
„Hast du Angst vor dem Meer, weil es deinen Mann verschluckt hat?“ „Nein.“ Ihre Stimme ist warm, wie die Sonne auf ihrer Haut. „Das verstehe ich nicht.“ „Das Meer hilft mir, mich nicht mehr einsam zu fühlen. Wenn ich früh aufwache ist es da, jeden Tag. Es ist beständig und unendlich, es wird für immer vor meinem Fenster sein.“ Der kleine Junge springt wieder auf und hüpft durch das Meer, seine Hose wird nass und sein Lächeln breiter. Er ist jung, aufgeweckt und lebensfroh. Dann gibt er der alten Frau einen salzigen Kuss und läuft zurück nach Hause. Die Sonne steht kurz davor unterzugehen und sie erhebt sich. Der Himmel färbt sich in einem zartem Orange. Mühsam schiebt die Frau das Boot auf das Meer und setzt sich hinein. Ein Wind weht, die sanften Wellen schaukeln das Boot leicht und tragen es hinaus. Weit wird sie nicht fahren, schließlich wird es bald dunkel. Der Himmel nimmt die unterschiedlichsten Farben an und sie genießt das Spiel der Natur. Den Blick auf den Horizont gerichtet, glaubt sie ihn zu sehen. Seine Augen sind voller Liebe, so gütig und sie fordern sie auf. Genieße und nutze jeden Augenblick deines wunderschönen Lebens. Um zu lieben, zu lachen und zu leben.