Der Wecker klingelte heute umsonst. Ann Bauer ist vor Aufregung schon seit zwei Stunden wach, schließlich war es der Morgen der Bundestagswahl 2029, der ersten, bei der auch sie wählen darf. Es ist die spannendste Wahl seit Jahrzehnten. Die alteingesessene CDU muss zum ersten Mal seit langem fürchten, eine Wahl zu verlieren und das ausgerechnet auch noch gegen eine erst vor kurzem gegründete Partei: Die OOC, die Only-One-Chance Party. Aus der Fridays-For-Future Bewegung entstanden, besteht das Parteiprogramm selbstverständlich zu einem großen Teil aus Umweltreformen und Tierschutz, aber das ist bei weitem nicht das einzige, das die OOC zu bieten hat: Die Polizei soll von oben bis unten untersucht werden, um Polizeigewalt und ähnliches zu verhindern, Marihuana soll legalisiert werden, Reiche sollen stärker besteuert werden. Als Folge dessen ist nicht nur die Wählerschaft, sondern auch der Parteistab selbst noch sehr jung, der Bundeskanzlerkandidat ist offen homosexuell und hat bei den öffentlichen Diskussionen, man kann es nicht anders sagen, die veralteten Standpunkte seiner Gegner auseinandergenommen. Der Konsens über die stattfindenden Wahlen erinnert eher an einen Ringkampf zwischen Jung und Alt; in der linken Ecke des Rings die verträumten, unerfahrenen Jungspunde, in der Rechten die alten, senilen Konservativen. Die Glocke schlägt dreimal laut auf und gleichzeitig mit den Wahllokalen ist der Kampf eröffnet. Ann, die natürlich auch nur für die OCC brennt, betritt wiederrum erstmal nur das Wohnzimmer der kleinen Wohnung. Ihre Mutter Sophie, die sie alleine aufgezogen hat, sitzt gebannt vor dem Fernseher. Nach aktuellen Prognosen haben sowohl die CDU als auch die OOC ungefähr 35 Prozentpunkte, die CDU steht nur um 0.3 Prozent vor der neuen Partei. Ganz zu Freuden von Anns Mutter. Mit 55 Jahren und als traditionelle CDU-Wählerin kann sie nichts mit diesen ganzen neuen Ideen anfangen: Sie ertrug es noch, als Ann sie bat, nur noch vegan zu kochen, doch als sie ihren Haushalt „Zero-Waste” machen wollte, konnte sie gerade noch verhindern, dass Ann den Mülleimer in der Küchenleiste durch einen Komposthaufen ersetzt. Ann schaufelt ihr veganes Müsli aus dem Glas und bewässert es mit Mandelmilch. Die Schadenfreude im Gesicht ihrer Mutter über die 0.3 Prozent waren nicht zu übersehen, doch Ann hatte keine Lust sich provozieren zu lassen. Sie ignorierte jede Stichelei, die ihre Mutter ihr entgegenwarf und machte sich dann auf den Weg zu den Wahlen. Sie hatte das kindische Streiten satt.
Sophie Bauer arbeitet als normale Angestellte in einem Büro. Auch heute nimmt sie ihre übliche Route zur Arbeit, was sich jedoch als nerviges Unterfangen herausstellen sollte: Überall stehen junge Leute mit OOC T-Shirts und versuchen sie in ein Gespräch zu verwickeln, ihr Flyer in die Hand zu drücken oder erinnern sie daran, dass heute die große Wahl ist. Auf einer Broschüre, die ihr trotz ihres Widerstands ein junger Mann in die Hand gedrückt hatte, liest sie den Slogan der OOC: Ihr nehmt uns unsere Zukunft weg! Wie oft hatte sie schon diesen Satz von ihrer Tochter gehört und wie oft hatte sie geantwortet, dass sie doch persönlich nichts für den Klimawandel könne? Wie ignorant dieses Argument war, war ihr immer egal gewesen. Doch aus irgendeinem Grund folgte dieser Slogan, dieser Vorwurf, ihr heute unaufhaltsam: Selbst im Büro, als niemand mehr versuchte, sie doch noch in letzter Minute zur OOC zu konvertieren, hallte der Satz in ihrem Kopf wider. Auch abends, als sie von der Arbeit zum Wahllokal geht, kann sie ihn nicht losschütteln. In der engen Kabine, mit dem Wahlzettel vor ihr, werden ihre Zweifel nur noch umso größer. Was war, wenn Ann recht hatte? Was war, wenn ich und die CDU wirklich zum alten Eisen gehören, zu stur um die Fehler in unserem Verhalten zu erkennen? Sie denkt zurück an all die hitzigen Debatten in der Familie Bauer, wie sie Anns Hass auf die Kohleindustrie mit dem Argument niedermachte, dass die Jobs wichtig seien und sie ein wichtiger Bestandteil der deutschen Wirtschaft sei. Jetzt denkt sie, dass, wenn die Welt am Klimawandel zu Grunde gehen würde, diese paar Jobs auch egal wären. Sie erinnert sich, wie sie einmal Ann auf einen Fridays-for-Future Protest begleitete als diese in der 3. Klasse war. Selbst damals konnte sie nicht anders als von dem politischen Engagement der Jugend begeistert zu sein und den Reden von mehreren Jugendlichen gebannt zuzuhören. Auf der anderen Seite der Waage lagen all die Male, in denen sie in einer dieser ähnelnden Wahlkabine ihr Kreuz bei der CDU gemacht hat. Für was sollte sie sich diesmal entscheiden: Tradition oder Revolution? Sie nimmt den Kugelschreiber in die Hand.
Sophie sperrt die Tür auf und wird sofort von Ann begrüßt, die gebannt den Fernsehbildschirm betrachtete. Ann fragt nicht, was ihre Mutter gewählt hat. Sie war sich sicher, dass die OOC auch ohne die Stimme ihre Mutter gewinnen würde.
Am nächsten Tag waren alle Stimmen ausgezählt und die Ergebnisse wurden in einem anschaulichen Kuchendiagramm vorgestellt: Die OOC hatte die CDU ganz knapp um 1.2 Prozentpunkte besiegt. Das Lächeln in Anns Gesicht war für Sophie unbezahlbar. Mit Freudentränen in den Augen warf ihre Tochter ihre Arme um sie und jauchzte vor Glück. Die einzigen Worte, die sie rausbrachte, waren: „Es gibt noch Hoffnung.” Sophie lächelte Ann nur von der Couch aus an, bis diese ihren Jubel beendet hatte. „Du bist ja gar nicht wütend”, stellte sie fest. „Warum sollte ich wütend sein?”, erwiderte die alleinerziehende Mutter. Dieser Satz verwirrte Ann, doch in Glitzern in den Augen der sonst so undurchschaubaren Sophie verriet ihr, dass das Undenkbare geschehen war. „Du wirst doch nicht...”, find Ann an, doch ihre Mutter nickte nur. „Doch, habe ich.” Sophie steht auf und nähert sich ihrer Tochter, die sich in Schockstarre befindet. Es war der erste Ringkampf, der nicht mit einem K.O., sondern einer Umarmung endete.