Für den kommenden Montag haben wieder einige Klimaaktivisten eine Demonstration in der Stadtmitte geplant, um ihre Forderungen an die Klimapolitik kundzutun. Klimapolitik - ich kann dieses Wort nicht mehr hören. Der kleinste Gedanke daran verstärkt meine Übelkeit um ein Vielfaches. Wann begreifen diese Menschen endlich, dass es nicht nur die Bäume sind, die uns das Leben ermöglichen? Es gibt auch noch andere Dinge, auf die man Wert legen sollte. Ohne eine gute Wirtschaftspolitik müssten wir beispielsweise auf unseren Wohlstand verzichten. Aber für all diese Standards müssen sie in Hinsicht auf ihre „grünen“ Forderungen kürzertreten. Verdammt! Mir ist speiübel. Ich glaube ich muss mich übergeben. Im letzten Moment gelingt es mir, meinen Kopf zu erheben, sodass mein Mageninhalt auf dem Boden landet. Was ist nur los mit mir? Jetzt wird mir schlagartig schwarz vor Augen. Wieso kann ich nichts mehr sehen? STILLE.
Ein kaum erträglicher Gestank bahnt sich seinen Weg in meine Nasenlöcher. Um festzustellen, wo der Ursprung dieses unangenehmen Geruches liegt, müsste ich meine Augen öffnen. Doch die enormen Magenschmerzen lassen mein Vorhaben unmöglich erscheinen. Langsam kann ich mich wieder entsinnen, was geschehen ist. Ich muss das Bewusstsein verloren haben. Endlich gelingt es mir, meine Augen mit größter Anstrengung zu öffnen. Erst das rechte, dann das linke. Mein Blick richtet sich direkt auf das Feld, das nur etwa fünfhundert Meter von unserem Haus entfernt liegt. Gerade fährt ein Traktor über den Acker. Hinter sich zieht das Gefährt einen großen Anhänger, aus dessen Öffnung eine Flüssigkeit herausspritzt. Die Quelle des unerträglichen Gestanks muss diese Substanz sein. Biologischer Dünger kann das jedenfalls nicht sein. Nein, es riecht so anders, so giftig... Erneut keimt der unangenehme Brechreiz in mir auf. Dieses Mal schaffe ich es jedoch nicht, meinen Kopf zur Seite zu befördern. Ausgerechnet in diesem Moment tritt unser Nachbar Bill, eine Schönheit von Mann, in seinen Garten. Da sich das Grundstück seiner Eltern neben uns befindet und die Hecke gerade einmal bis zu meinem Bauchnabel reicht, entgeht ihm mein Missgeschick nicht. Sofort versuche ich mich mit dem Rücken in seine Richtung zu wenden, damit ihm weitere unansehnliche Szenen erspart bleiben. Doch kaum habe ich mein Vorhaben in die Tat umgesetzt, kann ich Schritte vernehmen. Er wird doch nicht etwa zu mir kommen? Eine Flucht erweist sich allerdings als unmöglich, denn mein Körper ist erstarrt. „Alles in Ordnung?“, höre ich Bill nun fragen. „Ich habe vermutlich nur etwas Falsches gegessen.“ Jetzt erkenne ich, wie sich auf Bills Stirn Falten bilden. Glaubt er mir denn nicht? „Ich denke kaum, dass du etwas Falsches gegessen hast.“ Nun bin ich diejenige, die ihren Zweifel mit derselben Gestik zum Ausdruck bringt. „Ich kann dir nicht ganz folgen.“ Der breitgebaute, junge Mann atmet nochmals tief ein und aus, bevor er mit seiner Erläuterung beginnt. „Ich gehe eher davon aus, dass du aus der Wasserleitung getrunken hast, richtig?“ Kurze Zeit zögere ich mit meiner Antwort. „Ja, ist das ein Verbrechen?“. „Für dein Körper ist das mit Sicherheit ein Verbrechen. Hast du es denn noch nicht gelesen?“. Wieso spannt er mich derartig auf die Folter. Offensichtlich hat er meine Ungeduld inzwischen realisiert, denn er setzt wieder zum Sprechen an. „Das Trinkwasser ist vergiftet“. Vergiftet? Ehe ich über seine Worte nachdenken kann, tritt mein Vater auf die Terrasse. Er trägt einen schwarzen Anzug und eine Sonnenbrille. Seine Haut wirkt blass und er ist bis auf die Knochen abgemagert. „Papa, hast du etwa auch von dem vergifteten Leitungswasser getrunken?“ Kaum habe ich meine Frage ausgesprochen, hält sich mein Vater die Hände vor seine Augen und begibt sich schnellen Schrittes in das Haus. Verzweifelt richte ich meine Blicke zu Bill. „Ich verstehe die Welt nicht mehr.“ Jetzt legt mir der braunhaarige Schönling seine große Hand auf meine rechte Schulter. „Lina, du scheinst immer noch unter Schock zu stehen.“ „Oh ja, ich bin über all das, was sich hier gerade abspielt, schockiert.“ Jetzt kann ich Bills mitleidigen Blicke erkennen. „Das mit deiner Mutter tut mir sehr leid. Aber sie ist inzwischen kein Einzelfall mehr.“ Was ist mit Mama? Was meint er mit ‚leidtun‘? „Ich halte das nicht mehr aus! Wollt ihr meinen gesundheitlichen Zustand noch mehr zum Negativen verändern“. Erschrocken starrt mich mein Gegenüber an. „Lina, du musst lernen, mit dem Tod deiner Mutter umzugehen. Plötzlich stoppt mein Atem. „Mama tot? Das muss ein böser Witz sein“, pruste ich aufgrund des Sauerstoffmangels. „Nein Lina, über so etwas würde ich niemals scherzen. Sie ist an den Folgen einer Vergiftung gestorben - genauso wie die anderen dreißig Bürger, die die vergangene Woche in diesem Landkreis eine bisher unbekannte Gemüsesorte genossen haben. Alle befragten Bauern streiten jedoch ab, ein tödliches Gift angewendet zu haben. Kann ich dir noch irgendetwas Gutes tun?“ Kaum hat er seinen Satz beendet, beginnt sich erneut, alles um mich zu drehen. Mama tot? Hilfe! STILLE.
„Lina, geht es dir nicht gut?“. Ist das nicht die Stimme meiner Mutter? Bin ich etwa auch tot? Vorsichtig öffne ich meine Augen. Meine Blicke richten sich direkt auf das Gesicht meiner Mutter. Sie lebt! Wortlos nehme ich sie in die Arme. „Welche emotionale Ader wurde in dir aktiviert wurde, mein Kind? Herr Doktor Meier hat gerade angerufen. Deine Stuhlprobe hat es eindeutig bestätigt: Du hast dir einen Magen-Darm-Virus eingefangen.“ „Ich leide also unter keiner Vergiftung?“. Perplex blickt mich meine Mutter an und ich reiche ihr daraufhin die Zeitung. „Mama, ich finde es großartig, dass sich diese Menschen für unsere Umwelt einsetzen und ich glaube, ich werde mich ihnen anschließen.“ Auf diese Aussage hin entgleist meiner Mutter das Gesicht noch offensichtlicher. Nun schweigen wir beide und blicken auf das nahegelegene Feld, auf dem ein Traktor mit einem Anhänger fährt.