Einsendung zum Schreibwettbewerb Zeilengrün von A. B., 25 Jahre
Als ich 8 Jahre alt war, habe ich etwas Schlimmes getan. Etwas, das mich heute noch bis in meine Träume verfolgt. Weswegen ich mich immer ein bisschen scheinheilig fühle, wenn ich mich dafür rechtfertigen muss, warum ich vegan lebe: „Ich mag das Gefühl nicht, dass für mich ein Tier getötet wird oder leiden muss, wenn es auch anders geht.“
Ja. Ich habe ein Tier getötet. Einen Vogel. Nicht direkt. Aber trotzdem.
Eine Vogelfamilie hatte sich mit den Berechnungen für die Standortwahl ihres Einfamilien-Nestes an unserer Hauswand etwas vertan. Das Nest war abgestürzt und ein Küken in unserer Einfahrt gelandet. Noch ganz flauschig. Noch lebendig. „So ist der Lauf der Natur,“ hatte meine Mutter gesagt. „Geh nicht zu dicht ran, sonst füttert die Mutter es nicht mehr. Wir können es nicht großziehen.“ Also habe ich nur von Weitem geguckt. Hab versucht nicht dran zu denken. Bin dann doch alle 10 Minuten hingelaufen, um zu gucken. Habe versucht, aus meinen Büchern doch herauszufinden, wie man ein Küken großzieht. Bis unsere Nachbarin kam. Und draufgetreten ist. Sie hat es nicht mal gemerkt. Hat ein Leben ausgelöscht, weitergeredet und ist wieder nach Hause gegangen. Ich hätte genug Zeit gehabt, zu sagen „Achtung. Du trittst gleich auf ein Vogelküken.“
Hab ich aber nicht. Tiere lagen mir nicht ganz ohne Grund so am Herzen. Ich hatte Angst vor Menschen. Was wird sie sagen? Dachte ich. Die lacht mich doch aus. Was, wenn es ihr egal ist? Die Wörter blieben mir im Hals stecken. Deshalb habe ich nur dagestanden, eingefroren, mit einem Gefühl, als wäre sie nicht nur auf ein Küken getreten, sondern auf meine ganze Welt.
Und ich war schuld.
Genau so fühlt es sich jetzt auch manchmal an. Ich liebe Tiere. So sehr, dass ich selbst Mücken meist versuche zu verjagen statt zu erschlagen. Wer bin ich, zu entscheiden, dass ein Lebewesen sterben muss, nur weil es mich nervt? Und ja, ich glaube tief in meinem Hinterkopf ist auch die Stimme meines 8-jährigen Ichs, die sagt „Das machst du nicht noch mal.“ Ich liebe die Natur. Manchmal, wenn ich den Sonnenuntergang über den Feldern sehe oder den ersten Schnee des Jahres – dann bleibt mir die Luft weg vor Schönheit. Und schließlich bin ich zugegebenermaßen auch ein großer Fan von der Erdatmosphäre, genügend Sauerstoff und stabilen Wetterlagen. Deshalb versuche ich, zu tun, was man eben tut. Mich informieren. Vegan und regional ernähren. Reduzieren, recyclen und wiederverwenden. Spenden. Plastik vermeiden. Ich freue mich, wenn Bienen in unser selbstgebautes Insektenhotel ziehen und wir Marmelade aus eigenen Erdbeeren kochen können. Das fühlt sich gut an. Bis ich Nachrichten gucke. Oder im Zug höre, wie Leute sich unterhalten: „Das ist doch nur Panikmache. Temperaturschwankungen gab’s immer schon. Oder wenn ich davon lese, dass Haien die Flossen abgeschnitten werden, um daraus Suppe zu machen. Dann fühle ich mich genau wie damals, wie ein ahnungsloses, hilfloses, machtloses Kind. Als müsste ich in Schockstarre zusehen, wie die Welt vor meinen Augen von großen und mächtigen Stiefeln zerstört wird, und egal was ich tue, es nützt nichts. Dann bleibt mir die Luft weg vor Machtlosigkeit.
Weil es so frustrierend ist, wie wenig man als einzelner kleiner Mensch ausrichten kann. Weil wir uns den Kopf über unsere Finanzplanung zerbrechen, um Bio einzukaufen, während Millionen-Firmen ihre CO2-Pläne nicht mal halbwegs erfüllen und unsere Bio-Gurken daneben lachhaft sind. Hast du schon mal versucht plastikfrei einzukaufen? Viel Spaß! Aber Hauptsache Strohhälme sind verboten.
Warum mache ich mir überhaupt die Mühe? Wozu verzichten, sparen, selber machen, wenn mein Beitrag am Ende lächerlich irrelevant ist?
Zum Glück, habe ich meine 8-jährige Stimme im Kopf, die immer wieder sagt: „Das machst du nicht noch mal.“ Ich weiß. Im Großen und Ganzen war es nur ein Vogelküken. Für mich war es eine Katastrophe. Ich habe mir den Kopf darüber zerbrochen, wie ich diese Katastrophe hätte verhindern können. Ich habe dazugelernt. Ich friere nicht mehr ein. Ich habe gelernt, mich und andere zu informieren (was heute ja zum Glück auch viel einfacher geht). Zum Beispiel, wie ich meinen Garten gestalten kann, damit Vögel gut wohnen können. Ich habe gelernt, freundlich zu sagen „Achtung. Du trittst auf ein Küken, wenn du so weiter machst.“ Ich habe gelernt, dass es okay ist, zu dem zu stehen was mir wichtig ist. Ich habe festgestellt, dass es viele andere Leute gibt, denen Küken, Schnee und die Erdatmosphäre wichtig ist. Die sich gerne darüber unterhalten und auch wissen wollen, wie sie nicht auf Küken treten oder unwissentlich Haifischfleisch essen.
Mir bleiben nicht mehr so oft die Wörter im Hals stecken. Ich glaube daran, dass Mahnungen und Katastrophenbilder sowieso wenig bringen. Das macht den Leuten Angst und dann frieren sie ein. Oder sie werden wütend und sagen „Warum soll ich mir die Mühe machen?“
Ich glaube, es bringt mehr, den Leuten zu zeigen, wie luftwegbleibend schön Sonnenuntergänge und flauschige Küken sind. Dass sich die Mühe lohnt. Dass es sogar Spaß machen kann, auf Plastik zu verzichten, Insektenhotels zu bauen und sich für die Umwelt einzusetzen. Ich glaube, dass haben und ich und viele andere in den letzten Monaten besonders gemerkt, als man plötzlich gezwungen war, stehen zu bleiben und zu gucken, was um einen herum eigentlich los ist. Ich zumindest habe mir ganz fest vorgenommen, sobald es wieder geht, wieder eine Naturgruppe für Kinder anzubieten, damit sich andere 8-Jährige nicht so fühlen müssen wie ich. Wir haben so viel Glück, dass wir auf so einem unglaublich schönen Planeten leben können. Und dass wir zu den wenigen Lebewesen gehören, die ihre Umwelt dermaßen aktiv, auf globaler Ebene und vorrauschauend gestalten können. Ich finde, damit sind wir es unserem Planeten schuldig, Verantwortung zu übernehmen. Und ich bin es einem kleinen Vogel schuldig. Wenn diesmal die Großen und Mächtigen mit ihren Stiefeln kommen, habe ich wenigstens nicht nur daneben gestanden und zugeguckt.