2016 habe ich Europa das erste Mal alleine verlassen. Ich hatte gerade mein Abitur bestanden, ein bisschen Geld gespart und flog für vier Wochen nach Südostasien. Was ich dort erlebte, lässt sich mit Worten kaum beschreiben. Bekannte und entferntere Familienmitglieder hatten mir schon öfter vom wunderbaren Fernost erzählt. Dass es dort auch Armut und Verschmutzung gab, wusste ich natürlich aus Dokumentationen. Ich erklärte mir diese Diskrepanz so, dass man als Tourist einfach weniger davon mitbekam. Doch vor Ort konnte ich kaum glauben, dass die Menschen die von diesen Ländern geschwärmt hatten, nie ein Wort über die Zustände in diesem Teil der Erde verloren hatten.
Als ich die Grenze zwischen Thailand und Kambodscha übertrat, was damals nur zu Fuß erlaubt war, sah ich das ganze Ausmaß. Müllberge türmten sich in dem Grenzstädtchen. Es stank unerträglich. Am Straßenrand stillten zahnlose Mütter ihre Säuglinge und die Kinder rasten auf mich zu, als sie sahen, dass ich weiß war, fassten mich bei den Händen, bettelten und suchten mit ihren kleinen Fingern meine Hosentaschen nach Geld ab. Am selben Abend gingen einige der Mädchen, mit denen ich gereist war, auf die Party-Meile. Eigentlich tranken sie beinahe jeden Abend und sahen aufgrund des täglichen Katers kaum etwas vom Land. An dem Tag war mir die Lust am Feiern vergangen. Ich setze mich auf den Balkon meines Hotelzimmers und begann, mir das erste Mal im Leben wichtige Frage zu meinen Werten zu stellen.
Als ich zurückkam, war ich überzeugt davon, dass ich langfristig nicht auf dieselbe Weise weiterleben konnte. Meine angestrebte Karriere im Marketing kam mir plötzlich wie eine riesige Lüge vor. Eines konnte ich nicht verstehen: Wie konnte irgendjemand, der an diesen Orten gewesen war, noch denken, dass die Welt in Ordnung sei? Wie konnte es sein, dass die Augen verschlossen blieben, wenn man das Elend und den Dreck selbst gesehen hatte? Wie konnte man zurück nach Europa kommen und keine fundamentale Veränderung in sich fühlen?
Zwei Jahre später trat ich wieder eine längere Reise an. Für ein Praktikum bei einer Umwelt-NGO, lebte ich mehrere Monate in Kapstadt. Auch wenn viele der Bilder mir schon vertraut waren, erschütterte mich Südafrika erneut. Was mich am meisten herunterzog, waren meine Mitpraktikanten, die fleißig Selfies am Strand auf Instagram posteten, online aber nie darüber sprachen, welche tiefen Ungerechtigkeiten es in diesem Land gibt und wie ernst die Klimakrise dort bereits ist.
Keiner verlor im Netz ein Wort darüber, dass wir aufgrund der Wasserknappheit die Toiletten nur selten spülen durften und nicht länger als eine Minute duschen konnten ohne Strafen durch die Regierung fürchten zu müssen. „If it’s yellow let it mellow, if it’s brown, flush it down!” Das war das Motto unserer jungen Wohngemeinschaft. Aber auf Instagram stand dann nur: #Beachlife #Traveladdict #Followme. Ich begann mich ernsthaft zu fragen, warum diese Leute hier waren und für eine NGO arbeiteten.
Einmal in der Woche fuhren wir gemeinsam in unsere Nursery, wo wir Pflanzen heranzogen. Die jungen Bäume wässerten wir mit sogenanntem Greywater, also Wasser, dass beim Duschen und Händewaschen aufgefangen wurde, damit es für die Natur wiederverwendet werden konnte. Die Nursery lag an einem windigen Hang am Rande Kapstadts und der Müll der Stadt wurde täglich angeweht, sodass wir regelmäßig säckeweise Plastik aus den Büschen pflücken mussten. Aus Angst vor den Menschen aus den umliegenden Armenvierteln, schlossen wir das eingezäunte Gelände immer ab. Oft kamen Obdachlose vorbei, rüttelten am Zaun und grüßten uns dann verlegen.
Vieles saß mir in dieser Zeit wie ein Dorn im Herzen und ich fühlte mich ohnmächtig. Auf die sozialen Probleme des Landes hatte ich keine Antworten. Doch mit der Zeit begann ich abends auf unserem kleinen Balkon mit Ausblick auf den Tafelberg Konzepte zur Plastikreduzierung zu erdenken. Als ich im Flieger nach Hause saß, kam mir plötzlich ein weiterer Gedanke, der mich fortan nicht mehr los ließ. Während ich im Stillen meine Mitmenschen kritisierte, war ich ja selbst um den halben Erdball geflogen und hatte die Luft verpestet. Auch wenn ich vielleicht mit anderen Eindrücken nach Hause kam, als viele andere, konnte ich deshalb kaum behaupten, ich hätte somit auch mehr Recht auf solche Auslandsaufenthalte.
Zuhause verwirklichte ich im Privaten dann viele Dinge, die ich in Südafrika gelernt hatte. Ich lebte insgesamt ökologischer und reduzierte meinen weltlichen Besitz drastisch. Mit meiner suffizienten Lebensführung, begann ich mich besser zu fühlen und in mir wuchs der Wunsch, das Glück dieser neuen Einstellung mit anderen zu teilen. Doch oft stieß ich auf taube Ohren. In meiner Vorlesung erzählte eine Gastvortragende dann, dass als „incentive-scheme“ die „high-performer“ ihres Unternehmens jährlich eine fünftägige Luxusreise nach Südafrika bekämen. Mir wurde ganz schlecht dabei, aber ich traute mich doch nicht, vor den knapp 500 Kommilitonen aufzustehen und zu fragen, ob sie eine solch kurze Reise an ein so fernes Ziel für ökologisch sinnvoll hielte. Nach dem Vortrag sprach ich die Referentin darauf an. Sie lächelte sehr freundlich und erklärte mir, dass sie als Unternehmen im Gegenzug viele umweltfreundliche Dinge tun würden. Welche das da wären, wollte sie nicht sagen.
Das werde ich wohl nie vergessen. Mir wurde klar, dass ich zu Umweltthemen nie wieder schweigen wollte, aus bloßer Angst, dass man mich belächeln würde. Denn nur wenn sich Leute trauen diese anzusprechen, werden sich die Paradigmen, und das was wir als Gesellschaft als „akzeptables Verhalten“ ansehen, langfristig ändern. Jeden Freitag demonstrieren nun Menschen, die das längst wissen, obwohl sie viel jünger sind als ich. Sie bitten die Politik, uns bei dieser Mammutaufgabe zu helfen, denn sie haben längst erkannt: nur weil viele blind bleiben möchten, müssen wir nicht unser aller Zukunft dafür aufs Spiel setzen.