Erbe

Einsendung von Sven Meyer, 22 Jahre

Ein ohrenbetäubender Knall ließ Kaia aufschrecken.
„Verdammt!“, rief sie laut aus. Wegen diesem plötzlichen Geräusch hatte sie ihre Teetasse umgestoßen und der Inhalt ergoss sich über ihre Unterlagen. Verdammt! Verdammt! Eilig versuchte sie zu retten, was noch zu retten war. Schließlich brauchte sie die Aufzeichnungen ihrer Vorlesungen, um für die anstehenden Klausuren zu lernen. Bei jedem Blatt, das sie untersuchte, schlug ihr Herz schneller und ihre Wut wuchs. Fast alles war dahin und damit auch ihre Chance Bestnoten in den Prüfungen zu erhalten. Erzürnt schlug sie mit ihren Fäusten auf den Schreibtisch. Wer oder was war schuld an diesem Desaster? Kaia öffnete das Fenster, um einen Blick hinauszuwerfen. Augenblicklich schlug ihr ein Schwall heißer Luft entgegen. Es war gerade einmal April, doch die Temperaturen lagen bereits über 30 Grad Celsius. Für sie war das normal geworden, auch wenn sie sich an wenige Momente in ihrer Kindheit erinnern konnte, in denen der April noch nicht zum Sommer gezählt wurde. Sie konnte nicht viel sehen, da Hochhäuser die Sicht zu großen Teilen versperrten, aber in nicht allzu weiter Entfernung erblickte sie Rauch in ungewöhnlich großer Menge aufsteigen. Befand sich dort nicht der Hauptsitz von „Lenners“, dem größten Chemieunternehmen der Welt? Gab es dort ein Feuer? Wenn dem so war, waren die Labore getroffen worden? Chemikalien, die durch die Luft die gesamte Umgebung vergifteten, wären ein weit größeres Problem als ihre verloren gegangenen Unterlagen. Was auch immer geschehen war, sie wollte es herausfinden, selbst wenn es gefährlich sein sollte.

Eilig rannte sie durch die Straßen, während Sirenen lautstark ihren Weg begleiteten. Offensichtlich war wirklich etwas vorgefallen. Schließlich erblickte sie eine Traube von Menschen und zwängte sich durch sie hindurch. Zwar hörte sie einige Schimpfwörter hinter ihr wegen ihrem Drängeln. Aber nur hinten stehen würde ihre Neugier nicht befriedigen. Der Anblick, der sich ihr darbot, war wie aus einem Horrorfilm. Die Polizei hatte das Gelände abgesperrt, während Notärzte ihr Bestes taten, um Leben zu bewahren. Blutflecken färbten den Boden rot, während das Gebäude an manchen Stellen in Trümmern lag und anderswo brannte. Am bedrückendsten waren die schmerzerfüllten Schreie, welche sogar die Sirenen übertönten.
„Was ist hier passiert?“, fragte sie, ohne eine Antwort zu erwarten, doch trotzdem erhielt sie eine von einem Passanten.

„Ein Terroranschlag habe ich gehört. Diese verdammten Umweltfanatiker.“
Sie spürte Übelkeit aufsteigen und den Drang diesen Ort zu verlassen. Sie wollte nur noch nach Hause. Warum hatte sie das überhaupt sehen wollen. Der Anblick hatte sie so verstört, dass sie den falschen Weg einschlug und durch eine Gasse schritt. Auf halbem Weg erblickte sie eine zusammengesunkene Gestalt, zu der eine Spur von Blut führte. Sofort eilte sie zu ihr. So sehr sie sich vor der ganzen Situation fürchtete, konnte sie doch keine Person in Not zurücklassen. Sanft rüttelte sie an dem Mann.
„Hey! Hey! Alles in Ordnung mit dir?“
Als Antwort erhielt sie ein Stöhnen und die Augenlider öffneten sich langsam. Welche Erleichterung.
„Ich werde sofort die Ambulanz rufen, halte durch!“
Doch ein fester Griff um ihren Arm hielt sie zurück, während verzweifelte Augen ihr entgegen starrten.
„Nein! Nicht die Ambulanz!“
„Aber du bist verletzt und deine Wunden müssen versorgt werden.“, versuchte sie sanft auf ihn einzusprechen.
„Nein!“
Leise schlich sich ein Verdacht in ihre Gedanken.
„Gehörst du etwa zu den Terroristen?“ Sie hatte gesprochen, ohne nachzudenken. Doch sie konnte die Zeit nicht zurückdrehen.
„Terroristen? Dass ich nicht lache.“, erhielt sie eine erstaunlich hämische Antwort.
„Was meinst du?“
„Die Gesellschaft nennt uns Terroristen, doch unternimmt sie nichts gegen die wahren Terroristen. Was ist mit denen, die das Leben von Abermillionen Menschen auf dem Gewissen haben? Mit denen, die dafür gesorgt haben, dass noch mehr ihre Heimat verloren haben, als der Meeresspiegel gestiegen ist? Aber vielleicht haben sie Recht. Das ist kein Terrorismus. Das ist Völkermord, alles für den eigenen kurzweiligen Gewinn. An deren Händen klebt mehr Blut als wir jemals vergießen könnten.“

Seine Worte schockierten sie, da sie durchaus Wahrheit enthielten. Die Welt hatte sich innerhalb kürzester Zeit verändert, da niemand der Umweltverschmutzung und der menschengemachten Klimaerwärmung Einhalt geboten hatte. Inzwischen gab es Gesetze, aber gingen sie weit genug? Die Wissenschaft war anderer Meinung, doch sie blieb ungehört.

„Hey! Gehen Sie sofort weg von der Person!“
Plötzlich waren Sicherheitsleute mit gezogenen Waffen erschienen und zielten auf sie.
„Er ist verletzt, Sie können die Waffen herunternehmen“, versuchte sie auf die Männer einzureden. Doch die Spannung war unbeschreiblich.
Plötzlich schubste der junge Mann sie fort und sofort schlugen zahlreiche Kugeln in seiner Brust ein. Traurige Blicke hielten an ihr fest, während das Leben seinen Körper verließ.
„Warum?“, schrie sie seinen Mördern entgegen. Doch diese stürmten ohne eine Erwiderung auf sie zu, drehten ihr den Arm auf den Rücken und legten ihr Handschellen an.
Nur einer der Männer sprach aus, was sie dachten: „Er war ein Terrorist. Der Abschaum des Abschaums.“

Während sie von den Männern abgeführt wurde, konnte sie ihre Tränen nicht zurückhalten. Warum? Warum war es so weit gekommen? Warum hatte niemand diesen Wahnsinn gestoppt, bevor er sich so entfesseln konnte? Hatte niemand die Welt retten können, bevor es zu spät war? Gab es niemanden, der dieses ganze Leid hätte verhindern können? Jemand, der das Wohl der Menschheit und auch sein eigenes langfristiges Wohlergehen über kurzzeitige Gewinne hatte stellen können? Warum hatten ihre Vorfahren ihr eine solche Welt zurückgelassen? Was für ein tolles Erbe. Eine Welt, in der keine Seite mehr im Recht war.