Die bröselige Flüssigkeit zischt und brodelt. Künstlicher Geruch verbreitet sich. Kleine, grün-weiße Geschosse jagen hinaus aus dem vulkanartigen Gebilde. Bunte Fetzen schimmern in der dickflüssigen, undefinierbaren Konsistenz, die sich wie Lava in alle Richtungen des Himmels ausbreitet. Explosionsartiges, dauerhaftes Zischen.
Bald würde die brodelnde Flüssigkeit meine Füße erreichen. Ich setze sie ein paar Zentimeter zurück, um der kriechenden Lava zu entkommen. Mit etwas Distanz analysiere ich den Ort des Geschehens: vom Ende des Ganges aus hatte sich, ausgehend von einer Plastikflasche, ein sich in den Fugen der Fliesen schlängelnder Fluss gebildet. Der Deckel der Flasche war zu, aber ein spitzer Gegenstand hatte sich in das Plastik gebohrt, sodass aus den auslaufenden Flüssigkeitstropfen erst ein See, dann ein Fluss entstanden war, der sich auf den mit weißgefliesten Boden hin zu den plastikbeschichteten, pulvergefüllten Papiertütchen bewegt hatte. Die Reaktion von Flüssigkeit und Pulver wiederum führte zur schrittweisen Auflösung und Zersetzung dieser Verpackung. Die Vereinigung von Wasser und Pulver bewirkte scheinbar die exponentielle Produktion einer explosiv anmutenden Masse, deren Zischlaute sich immer lauter an mein Ohr und deren künstlicher Waldmeistergeruchsich immer aufdringlicher an meine Nase drängt.
Ich stehe im Supermarkt, als ich Zeuge dieser ungewollten Brausepulver-Wasser-Reaktion werde.
Ich stelle mir vor, wie jemandem der spitze Gegenstand, eine Heftzwecke, versehentlich aus der Tasche fällt. Ich stelle mir vor, wie jemand mit seinem Rucksack den Waldmeister-Brausepulver-Turm umreißt, ohne es zu merken. Und schließlich, wie jemand, die Kurve unterschätzend, mit einem kurvenabgeneigten Einkaufswagen schwungvoll gegen das Regal fährt und dadurch eine Wasserflasche ins Wanken bringt, die bei ihrem Aufprall auf den Boden genau in die Heftzwecke fällt. Die einzelnen Taten hatten keinen Effekt, die Reaktion wurde nicht absichtlich ausgelöst und doch gibt es Verantwortliche.
Plötzlich habe ich eine Vision: Ich sehe, dass es mit dem grün-weißen Zischen noch nicht getan ist. Ich sehe kalten, weißen Boden, überzogen mit säurehaltiger, scheinbar explosiver Flüssigkeit. Ich sehe, wie der künstliche Geruch die Einkaufenden aus dem Süßigkeitengang verdrängt. Der Supermarkt erscheint mir als geschlossener Raum. Jeder hat sein Lieblingsregal, seine Heimat. Einige bleiben bei einem Regal hängen, andere nehmen regelmäßig Ortswechsel vor. Einige Regale werden gemieden, andere halten großem Ansturm stand. Einige Einkaufende landen in Sackgassen und müssen umkehren, andere nehmen Umwege. Einige düsen mit dem Einkaufswagen durch den Laden, andere lassen sich schieben, wieder andere sind schwer bepackt mit Taschen, Korb und Kind. Einige stehen an der Wursttheke, andere bei den Discounternudeln.
Nun aber ist das Lieblingsregal einiger nicht mehr begehbar, diese einigen müssen ausweichen. Im benachbarten Regal stehen Getränke. Immer mehr Leute verlassen notgedrungen das Süßigkeitenregal und fliehen zu den Getränken. Das Gedränge wird größer. Irgendwann kippt ein Getränketurm, der Gang wird überflutet. Wieder müssen Leute ausweichen und eine neue Zuflucht suchen. Doch das Obst und Gemüse vermischt sich mit dem verseuchten Brausepulverwasser und wird unverzehrbar. Der Platz wird enger, die Lebensmittel knapper. Einige beginnen, die Nudelregale umzureißen, um Platz für Lebensmittel und Orte zum Bleiben zu schaffen. Doch die Plastikverpackungen machen den Boden unfruchtbar, sie werden in Bergen von A nach B geschoben. Die Luft im Supermarkt wird dicker. Der Strom fällt aus, die Kühlschränke verlieren ihr Kühlwasser. Der Wasserpegel steigt.
Mir wird schlagartig etwas klar:
Unser Planet ist ein Super-Markt. Im wahrsten Sinne des Wortes. Er bietet uns Heimat, Versorgung und Begegnung. Aber wir können nicht endlos einkaufen. Es gibt nicht endlos Ressourcen, das Lager kann nicht endlos gefüllt werden. Wir sind alle mitverantwortlich, auch wenn uns nicht alle Fehlschritte bewusst sind. Kleine Fehlhandlungen lösen in Zusammenwirkung mit anderen Großes aus. Wir müssen achtsam sein und wachsam für uns und für die anderen.
Noch immer brodelt das Brausepulver vor meinen Augen und verteilt sich im Gang.
Stell dir vor, Menschen können nicht mehr an ihren Lieblingsort, in ihre Heimat.
Stell dir vor, sie müssen fliehen. Sie haben Hungersnöte. Sie leben auf verseuchtem Boden.
Mit dem Taschenmesser aus meinem Rucksack fange ich an, in die Fliesen zu kratzen. Die Erde, auf die sie direkt gelegt wurden, quillt aus den kreierten Fugen hervor. Mehr und mehr Einkaufende kommen in den Gang.
Jemand bringt einen Wischmopp.
Jemand entfernt den Brausepulversäureberg.
Jemand entfernt die Plastikflasche Wasser.
Jemand packt die Heftzwecke ein.
Jemand holt Samen.
Jemand legt sie in die Fugen.
Jemand packt mit an.
Jemand ist jeder.
Am Ort einer Waldmeister-Säure-Base-Reaktion werden die Menschen zu Wald-Meistern.
„Es gibt keinen Supermarkt B“ leuchtet in erdigen Lettern auf dem Fliesenboden.