Remplacement

Einsendung von Lara, 15 Jahre

Es ist genau fünf Uhr, als die Sirenen wieder angehen. Ich halte kurz inne und hole die Kopfhörer aus meinen Ohren. Im Hospital ist mehr los als ich dachte, obwohl es noch relativ früh ist. Fast alle Räume sind besetzt.
Seit dem Coronavirus vor 2 Jahren sind immer mal wieder seltsame Krankheiten aufgetaucht. Ich schätze, die Organismen aus der Zeit, wo Libellen noch zwei Meter lang waren, tauen langsam auf. Es ist schrecklich, aber hoffentlich genau der Anstoß, den die Menschheit braucht, um sich endlich richtig mit der Abkühlung der Pole zu befassen.
Außerdem haben wir seit einigen Wochen wieder starke Unwetter. Die Nizza führt ständig Hochwasser und von der Küste kommen riesige Stürme. Leute werden von den Wellen überrascht und Wohnungen stehen mehrere Zentimeter unter Wasser. Ich nehme meine Hände aus den Jackentaschen und drücke die Glastür auf. Auch wir leben momentan wie in einem See.
Elodies Raum erkenne ich schon von Weitem. Hauptsächlich, weil mein Bruder auf einem Plastikstuhl davor sitzt. Oder eher schläft. Seit unsere kleine Schwester ins Krankenhaus eingeliefert wurde, hängt er ständig hier rum. Er sagt immer, als einzig Volljähriger von uns, ist es sein Job, dass es uns gut geht.
Das Licht wird immer greller und ich verlangsame meine Schritte. Vor dem Fenster von Elodies Zimmer bleibe ich stehen. Die Jalousie ist etwas geöffnet, also werfe ich einen Blick hinein. Allerdings kann ich nicht lange hinsehen.
Meine vierzehnjährige Schwester ist an so viele Geräte angebunden, dass man kaum noch ihr Gesicht sieht. Meine Hände fangen an zu zittern. Elodie sprüht normalerweise nur so vor Energie. In der städtischen Jugendvertretung versucht sie immer, etwas zu bewirken und wirft zuhause Darts auf ein Poster von Elon Musk, der Marsreisen möglich machen will. Noch brauchen wir keinen Planeten B, sagt sie immer.
Ihr Ziel ist es, umweltfreundliche Politik an die Spitze zu bringen. Komplett auf erneuerbare Energien umsteigen, öffentliche Verkehrsmittel ausbauen, auf Öko-Landwirtschaft umsteigen und sowas. Elodie sagt, dass wir durch clevere Klimapolitik noch die Möglichkeit haben, die Erderwärmung wirklich auf eineinhalb Grad zu begrenzen und nicht auf die zehn, auf die sie momentan zuläuft.
Ich mag ihre Ideen. Manchmal überkommt mich deshalb nur irgendwie ein schreckliches Gefühl von Hilflosigkeit.
„Aurelie?“ Ich drehe mich zur Seite. Alain ist aufgewacht und nicht glücklich mich hier zu sehen. Er steht auf. „Was machst du hier?“. Ich zucke die Schultern und schaue nach unten. „Ist es falsch nach seiner Schwester sehen zu wollen, die fast ertrunken wäre?“ Er schüttelt den Kopf. „Dafür bin ich hier. Geh einfach zurück nach Hause“. 
Meine Gedanken wandern zu Elodie, die fast durch die Wassermassen ermordet wurde. Die Erde, die wir angefangen haben zu zerstören, rächt sich, könnte man sagen. Aber warum ausgerechnet an meiner Schwester? Wie weit wird es noch gehen?
Ich spüre wie das Zittern meiner Hände sich verstärkt und packe den Stoff meiner Jacke so fest, dass ich ihn fast zerreiße.
Bevor Alain etwas sagen kann, renne an ihm vorbei auf die Terrasse.

Es regnet immer noch. Ich stelle mich an das Geländer und lasse das Wasser einfach an mir entlang laufen. Meine Hände klammern sich an die Metallstäbe und ich schaue runter auf die Straße. Von hier sieht man die Leute wie winzig kleine Punkte durch die Gassen laufen.
„Ganz schön melancholisch heute, was?“. Ich starre weiter nach unten. Alain hat mich gefunden. Er stellt sich neben mich und folgt meinem Blick.
„Glaubst du wir werden die Erde zerstören?“, frage ich und stütze den Kopf auf meine Arme. Alain sieht mich an und steckt seine Hände in die Hosentasche. Genau wie ich ist er inzwischen klatschnass. „Nein. Auch wenn es momentan ziemlich so aussieht“. Ich drehe mich von der Aussicht weg und sehe ihm ins Gesicht. „Das ist nicht fair.“ Meine Stimme wechselt fast zwischen zwei kompletten Oktaven. „Elodie ist mutig, geht auf Demos und hat Ideen für die Stadt. Und du bist schlau, arbeitest Nachts an irgendwelchen Maschinen und studierst Geoengineering, obwohl du tagsüber auch arbeiten gehen musst“. Ich reibe mir mit dem Ärmel über die Augen. „Und ich? Ich bin weder schlau noch mutig. Das einzige, was ich kann, ist hilflos mitansehen, wie unsere Erde zerstört wird“.
Alain packt mich an den Schultern. „Aurelie“, sagt er und sieht mir in die Augen. „Man muss nicht besonders mutig oder schlau sein. Je jure devant dieu, jeder kann etwas für die Umwelt machen! Es gibt so viel, was man tun kann“. Er legt den Kopf schief. „Das Problem ist, dass man den Erfolg nicht direkt sieht. Das Gehirn sieht keine Belohnung“.
Ich verziehe das Gesicht. „Was für einen Erfolg meinst du?“
Mein Bruder hebt die Augenbrauen. „Auf die ganze Welt gesehen macht Einer allein vielleicht erstmal keinen Unterschied. Aber wenn man sich auf die Stadt beschränkt...“ Er dreht sich den Straßen zu und zeigt auf die Häuser. „Dann ist dein Beitrag durchaus was wert. Und du inspirierst andere“.
Das erste Mal seit Maman uns wegen Corona verlassen musste, lächelt er wieder. „Unsere Stadt wird umweltfreundlicher, was andere Städte anspornt und schließlich das ganze Land!“ Seine Augen glitzern und für einen kurzen Moment spüre ich wirklich so etwas wie Hoffnung.
„Einer verbreitet Ideen auf Social Media. Ein anderer entwirft Gesetze. Und wieder ein anderer spendet. Eine Revolution hat viele Gesichter. Das Wichtige ist, dass wir am Ball bleiben“. Mein Bruder legt eine Hand auf meine Schulter. „Wir sind nicht hilflos“.
Er hat Recht.
„Danke Alain“, sage ich und schaue nach oben. Er nickt und richtet seinen Blick ebenfalls in den Himmel, wo der rote Planet vor sich hin leuchtet.
Wir brauchen den Mars nicht als Ersatzplaneten, denke ich. Nicht solange wir unsere Erde und die Menschheit mit dem Willen zu leben haben.

Autorin / Autor: Lara, 15 Jahre