Ende 2018 scrollte ich durch YouTube und mir wurde ein Video empfohlen: Ein junges Mädchen hält eine Rede über den Klimawandel vor lauter wichtigen Politikern. Ich scrollte weiter. Ich sah es mir nicht an, weil ich dachte: Mutiges Mädchen, aber ändern wird sie nichts.
Meine Mutter sagte mal, dass man sich an die wichtigsten Ereignisse im Leben erinnert. Und dieser Moment wurde wichtig. Wenn ich danach den Fernseher anschaltete oder Instagram öffnete, merkte ich, dass ich Greta Thunberg unterschätzt hatte (wie so viele). Fridays for Future hat eine weltweite Bewegung ausgelöst, die für den Drang nach Verbesserung und weniger Konsum steht. Weniger Konsum – es sei denn, ein Virus könnte mein Klopapier klauen.
Heute nutze ich die Medien und höre: Corona, Corona, Corona. Berechtigt? Wahrscheinlich, aber: Ich schaue täglich die Tagesschau und der Klimawandel wird nahezu nicht mehr erwähnt. Das ist ein Problem. Denn worüber nicht gesprochen wird, darüber wird nicht nachgedacht und nicht dementsprechend gehandelt.
Die Themenwahl der Medien beeinflusst unabdingbar die Publikumsagenda, also die Themen, die den Menschen am Herzen liegen. Wer nicht hört, dass Brasiliens Regenwald brennt, der verdrängt es. Wer es verdrängt, wird nie etwas verändern.
Das Schlimmste dabei ist: Verdrängen ist bequem. So einfach. Wir alle tun es mit allen möglichen Themen – wie sollte man sonst die Härten der Welt ertragen? Würden wir alle die volle, grausame Wahrheit sehen, würden unsere Leben anders ablaufen. Wer würde schon gerne mit einem Auto fahren, das schwarzen Qualm hinter sich herzieht? Dass CO2 sowie Dutzende anderer Treibhausgase unsichtbar sind, macht es so gefährlich. Unsichtbare Probleme, vor allem wenn ihre Auswirkungen ganz weit weg sind, bieten ein Paradebeispiel für einfache Verdrängung.
FCKW, der Verursacher des Ozonlochs, ist auch unsichtbar. Trotzdem ist FCKW ein Vorbild, denn die Regierungen weltweit reagierten darauf. Es dauerte Jahrzehnte, aber mittlerweile ist FCKW größtenteils verboten.
Rettet das die Welt? Es ist ein kleiner Teilschritt. Aber um die Welt zu retten, braucht es mehr, viel mehr. Iron Man hat seine ganze Existenz darauf ausgerichtet, die Welt zu retten – trotzdem schafft er es nur mit der Hilfe seiner Freunde. Es sollte für die Menschheit (alle zusammen, nicht allein) an der Zeit sein, jeden Tag alles zu unternehmen, um die Welt zu retten. Sollte. Denn gerade heute hätten wir unseren CO2-Ausstoß reduzieren können. Hätten.
Ich bin nicht Iron Man. Auch wenn sich das ausgesprochen blöd anhört: Ich gebe nicht jeden Tag alles, um die Welt zu retten und finde dafür herrliche Ausreden – zum Beispiel habe ich keinen coolen Superheldenanzug und fliegen kann ich auch nicht.
Stattdessen habe ich eine blühende Fantasie. Ich will sie dir vorführen (ja, genau du, der gerade über diese Worte stolpert). Lass uns gemeinsam in unsere, die Welt unserer Fantasie abtauchen: Stelle dir das letzte Waldstück vor, in dem du dich befunden hast. Gehe zu einem der Bäume und lehne dich an seine raue Rinde. Lasse den Blick über den Boden schweifen – siehst du Laub, tote Stöcker, neue Setzlinge, vielleicht einen Ameisenhaufen? Nun schaue hinauf zum Blattdach über dir. Ist es grün oder sind die Blätter braun und kurz vorm Runterfallen?
Atme ein – oh, was ist das? Ein seltsamer Gestank steigt dir in die Nase. Angewidert rümpfst du sie.
Plötzlich fällt dir auch der Lärm auf. Es sind Autos, eine Schnellstraße. Und der Gestank, das sind Abgase. Als du dich nun um dich selbst drehst, ist dort zwar noch der Baum an dem du lehntest, aber er ist allein auf einem Grünstreifen. Und sein Stamm ist nicht mehr groß und rau, sondern mickrig und zerbrechlich. Außerdem wirkt er fehl am Platz. Dieses kleine Grün inmitten des Graus – unästhetisch. Jemand steht neben dir und reißt es aus, kurz und schmerzlos.
Klingt nach Weltuntergang, oder? Bisschen übertrieben, richtig. In einer solchen Welt werden wir nie leben – denn wenn die Natur derart kaputt ist, können wir gar nicht mehr leben.
Es geht mir nicht darum, ein Schauermärchen zu verbreiten. Stattdessen möchte ich das Unsichtbare sichtbar machen und das Verdrängte zurück aus seiner Isolation zerren.
Wenn du oder ich das nächste Mal an einem Baum oder einem großen Wald vorbeilaufen, sollten wir uns bewusst sein, dass dafür auf der anderen Seite der Welt (oder zwei Dörfer weiter) ein Baum brennt und fällt. Und während wir lächeln und den Vögeln beim Zwitschern zuhören, wird woanders geweint und gelitten, und die Vögel sind nicht mehr zu hören, weil sie an Mägen voller Plastik starben oder weil sie durch die nebenliegende Schnellstraße übertönt werden.
Ich habe keine Erwartungen an die Auswirkungen dieses Textes. Ich hatte keine Erwartungen an Greta Thunbergs Rede, damals als ich durch YouTube scrollte. Aber mit ihr will und kann ich mich nicht vergleichen. Alles was ich will, ist, dass du an den mickrigen Baum neben der Schnellstraße denkst, wenn du nächstes Mal durch einen Wald läufst.
Denn jedes Verdrängen endet im Denken und jeder Widerstand beginnt im Denken.