Pinocchioline

Einsendung von Hanna Lecking und Lisa Grychtiol, 17 Jahre

„Alles war schön. Bunte Kugeln glitzerten im Baum, alle Kinder waren glücklich und voller Vorfreude. Ich freute mich darüber, doch dann wurde ich plötzlich im Nacken gepackt und das Nächste, an das ich mich erinnere, ist, dass ich im Müll wieder aufgewacht bin. Es war dunkel und es stank abscheulich. Dann hörte ich ein Piepen, rutschte ins Tageslicht und fand mich auf einem riesigen Müllberg wieder. Als nächstes wurde ich auf das Schiff aufgeladen und hier bin ich nun."
"Oh Pinocchioline, ähnlich lief es bei mir auch. Aber das ist ja oft so in der Weihnachtszeit. Alte Spielzeuge werden einfach weggeschmissen, wenn Kinder neue Sachen geschenkt bekommen", sagte Plastikinchen mit traurigem Blick.
Wuuusch! Krach! Krxxx!
Ein Riss zog sich immer weiter über das Deck des riesigen Müllschiffes, Wasser strömte herein. Grauer Himmel blitzte auf. Die beiden Hälften des Schiffes sanken immer tiefer und Pinocchioline wurde gemeinsam mit Plastikinchen fortgeschwemmt. Nur mit Mühe konnten die beiden sich an einem Müllsack festklammern.
Wind und Plastik tosten um sie herum und zerrten an ihren kleinen Leibern. "Pino…Ahhh!"
Pinocchioline drehte sich schnell zu Plastikinchen und sah, wie sie sich nur noch mit einer Hand an dem Beutel festhielt. Sie versuchte, ihre Freundin noch zu greifen, doch zu spät. Plastikinchen flog mit immer leiserem Schrei davon.
Pinocchioline schaute ihr entsetzt hinterher und sah dabei das große Stück Plastik, das sich ihr von der anderen Seite näherte, nicht kommen. Dann wurde alles schwarz.
Als sie wieder wach wurde, befand sie sich in einem mit zahlreichen Plastikteilen gefüllten Hohlraum. "Was ist denn das für ein schrecklicher Geruch?", fragte sich Pinocchioline. Plastikinchen hatte sie bereits vergessen. Doch die veränderte Länge ihrer Nase spürte sie sofort. Seltsam.
Sie richtete sich langsam auf und sah sich um. Ihr war schwummrig zumute und der Boden schwankte unter ihren Füßen. Zahnbürsten, Plastiktüten und zerbrochene Glasflaschen umgaben sie. Ihr Blick schweifte weiter zu den rosafarbenen, merkwürdig glänzenden Wänden. Wo war sie bloß hier gelandet?
Auf wackligen Beinen näherte sie sich den Wänden und streckte eine Hand aus. Sie zuckte zurück, als sie die glitschige und wabbelige Oberfläche berührte. "Igitt!", stieß sie hervor. Angst kam in ihr auf. "Wo zum Teufel bin ich und wie komme ich hier weg?", fragte sie sich panisch. Verzweifelt sank sie zu Boden und schluchzte leise. Doch halt! Was war das? Wie aus weiter Ferne konnte sie... aber nein, unmöglich! Waren das etwa Walgesänge? Sie sprang auf und rannte los. Endlich ahnte sie, wo sie war. In einem Wal! Sie wusste nun, was sie zu tun hatte. Sie musste zu den Barten des Wals gelangen. Sie hatte keine Zeit darüber nachzudenken, wie viel Müll in dem Wal war. Ihr Leben ging vor. Bei der ganzen Aufregung merkte sie nicht, wie ihre Nase ein weiteres Stückchen wuchs.
Mit einem Plan vor Augen, lief sie in eine von zwei Röhren, von der sie hoffte, dass es die Speiseröhre war. Plötzlich wurde sie kräftig durchgeschüttelt. Ein heftiger Wind schlug ihr entgegen und sie wurde druckwellenartig nach oben katapultiert. Sie sah das Meer von weit oben und flog in hohem Bogen durch die Luft. Unsanft kam sie im Sand auf.
Sie stand auf und stapfte durch den angeschwemmten Müll auf einen kleinen Weg zu, der sie in einen Wald mit riesigen Bäumen führte.
„Ich muss im Paradies sein!“, dachte sie. Der Gesang zahlreicher Vögel begleitete sie auf ihrem Weg, ihre Begeisterung wuchs mit jedem Schritt. Die Vielfalt der Pflanzen überwältigte sie und durch die Kronen der Bäume wärmte der Sonnenschein ihr lächelndes Gesicht. „Hier gehöre ich hin. Aus diesem Holz bin ich geschnitzt, das spüre ich einfach!“, flüsterte sie in den Wald hinein.
Stundenlang lief sie voller Glück durch den Wald, bis plötzlich ein mechanisches Brummen die Idylle durchbrach.
Wuuusch! Krrxxx!
Ein Baum krachte Pinocchioline vor die Füße, ein weiterer fiel in der Nähe.
Bei jedem fallenden Baum brach ihr kleines, hölzernes Herz ein Stückchen mehr.
Das Brummen in ihrer Nähe verstummte. Ein Mann kam auf sie zu und musterte sie neugierig. Pinocchioline war starr vor Schreck. Der Unbekannte hob sie langsam hoch und sagte: „Die wird Sophia gefallen.“ Mit der Aussicht auf ein Kind, das sie gern hatte, war Pinocchioline dem Mann freundlicher gesinnt.
Einige Zeit später machte sich der Mann auf den Heimweg und nahm sie mit.
Voller Vorfreude kam Pinocchioline in ein kleines Dorf. Vor einer winzigen, schiefen Hütte hielten sie. Der Mann klopfte an die Tür. Fast im selben Moment wurde sie aufgerissen und ein kleines Mädchen warf sich in seinen Arm. Lachend fing er sie auf und reichte Sophia die kleine Holzpuppe. Die Augen des Mädchens strahlten und sie drückte Pinocchioline an sich. “Endlich habe ich eine liebevolle Familie“, dachte Pinocchioline.
Seitdem nahm Sophia sie fast täglich mit auf die Straße. Dort saßen sie zusammen und fragten Passanten nach Geld. Pinocchioline war glücklich.
Eines Tages jedoch, erschien ein dicker Junge vor ihnen und drückte Sophia einige Münzen in die Hand. Beinahe zeitgleich packte er Pinocchioline. Sophia schrie:
„HE, was soll das? Gib mir meine Puppe zurück!“ und rannte dem Jungen hinterher.
„Was willst du von mir? Ich hab dir deine Puppe doch abgekauft. Die gehört jetzt MIR!“, erwiderte der Junge. Hilflos sprang Sophia an ihm hoch. Doch sie bekam Pinocchioline nicht zu fassen. Ein Ehepaar näherte sich, stieß Sophia weg und lief mit dem Jungen davon. Verzweifelt sah Pinocchioline, wie Sophia zu einem immer kleineren Fleck wurde.
Die Familie des Jungen machte eine Rundreise durch Südamerika.
Der Junge trug Pinocchioline oft mit sich herum und sie beobachte die Menschen. Viele trugen Masken und jagten Pinocchioline damit Angst ein. Doch sobald sie zurück in der Sicherheit ihres Hotels war, vergaß sie ihre Angst und all die Probleme auf der Welt, die sie auf ihrer Reise gesehen hatte. Täglich saß sie vor dem Fernseher und war zufrieden.
Irgendwann wurde sie in einen der vielen Koffer der Familie gestopft und fand sich am Ende des Tages in Washington wieder. Sie hatte sich an den Luxus gewöhnt und fühlte sich rundum wohl.
Eines Tages saß sie wieder neben dem Jungen auf der Couch und dachte sich: „Auf der Welt ist alles gut!“ Da begann ihre Nase ein großes Stück zu wachsen, so wie jedes Mal, wenn sie die Probleme der Welt ignorierte.
Sie war zu einem richtigen Menschen geworden.

Autorin / Autor: Hanna Lecking und Lisa Grychtiol, 17 Jahre