Earthsavers 2020: The Game

Einsendung von Jonas Lesigang, 21 Jahre

„Mama?“

Lukas schaute von seinem Tablet auf. „Mama“ hieß Claudia und tauchte jetzt aus der Welt von „Earthsavers 2020“ auf, dem neuesten Videospiel, was sie für ihre VR-Brille erstanden hatte. Letztere schob sie sich mit einer raschen Bewegung auf die Stirn, was automatisch das Spiel pausierte.

„Ja, mein Kleiner?“

„Mama, was ist Schnee?“

Claudia musste belustigt schnauben. Einerseits fand sie es gut, dass sich ihr achtjähriger Sohn nicht immer nur den Kopf mit Holo-Serien zudröhnte, die eigentlich noch nichts für ein Kind in seinem Alter waren, und stattdessen auch einmal ganz altmodisch am Tablet las. Andrerseits wusste sie nicht ganz, was sie davon halten sollte, dass seine Lektüre offenbar uralt war. Nicht, dass es ihn verwirrt, wenn er über etwas stolpert, dass es heute nicht mehr gibt. Zum Beispiel Schnee.

„Schnee war früher so was wie fester Regen, aber das gibt es heute zum Glück nicht mehr - ich stelle es mir furchtbar kalt und eklig vor. Warum fragst du?“

„Ferdi, also der Drache in dem Buch da, ist gerade in einem watteweichen Winterwunderland, und ich glaube, das gibt es, weil es davor geschneet hat, zumindest steht das da.“

„Geschneit. Und ich weiß es nicht, Lukas, aber ich bin mir sicher, da ist etwas anderes gemeint. Vielleicht die beleuchteten Verkaufsstände am Strand, wo man beim Weihnachtsbaden Essen kaufen kann? Das schaut doch immer wie ein Winterwunderland aus. Und weich ist es auch wegen des Sandes.“

Der Junge schien davon nicht überzeugt zu sein: „Und warum friert Ferdi dann im Winterwunderland? Er hat sich sogar eine dicke Jacke anziehen müssen.“

Da wusste Claudia auch nicht weiter. Kopfschüttelnd erklärte sie Lukas, dass es ja auch gar nicht so wichtig sei, was genau gemeint wäre, sondern vor allem, dass Ferdi der Drache wohl gerade in einer schönen Landschaft sei. Ein wenig unbefriedigt wandte Lukas sich wieder seinem Tablet zu und Claudia, wieder ein wenig befriedigt, klappte ihre VR-Brille wieder nach unten und tauchte ein in die fantastische Welt aus Earthsavers. Es ging darum, Ölfirmen und Automobilhersteller aufzuhalten, deren Beiträge zum Klimawandel die ganze Welt bedrohten. Sie wusste, dass der Klimawandel mittlerweile zum Glück kein Problem mehr war. Es war damals viel wärmer geworden und vieles hatte sich geändert, zumindest hatte sie davon im Geschichtsunterricht gehört, aber am Ende war es mit überlegenem technischen Fortschritt gelungen, das Schlimmste zu verhindern; die Menschen, die entfernter vom Äquator gelebt hatten, waren weiter zu den Polen gezogen und die, die in den heißesten Zonen waren, wurden mit der Zeit auf die mittlerweile florierende Marskolonie umgesiedelt.

Gerade stellte sie sich im Spiel einem Politiker, der sich vom Endboss, einem mächtigen Ölmagnaten, hatte bezahlen lassen, um eine Bohrgenehmigung im Naturschutzgebiet zu erhalten. Nachdem sie mühsam gewonnen hatte – kühl, zäh und indem er Konfrontationen immer geschickt auswich, hatte der Politiker lange ausgehalten -, kam sie ins nächste Level. Eine kurze Ladezeit folgte, in der ihre nächste Mission angezeigt wurde: Der Ölmagnat hatte mithilfe eines anderen Politikers doch noch einen Weg gefunden, in das Reservat einzudringen, und befand sich schon mit seinen Baggern dort. Dann fand sich Claudia in einer weißen Welt wieder. Sie brauchte eine Weile, um die Orientierung wiederzuerlangen, bis sie anhand der Formen in der Umgebung ausgemacht hatte, dass sie in genau dem Naturschutzgebiet stand, das sie soeben gerettet hatte. Nur war gerade nicht alles weiß gewesen. Als der erste Schock überwunden war, merkte sie, dass noch etwas nicht stimmte. Aus dem Himmel fielen unzählige weiße Pünktchen herab. Zuerst glaube sie an einen Grafikfehler, aber als sie die Hand nach einem von ihnen ausstreckte und bald etwas weißes, flockiges auf der Hand ihres Charakters sehen konnte, das eine wunderschön kristalline Form hatte, erfuhr sie schnell mithilfe eines Blicks in die Levelbeschreibung, worum es sich handelte. Das sollte Schnee sein?

Erst jetzt nahm sie sich die Zeit, sich in der atemberaubenden virtuellen Welt ein wenig umzusehen. In der Ferne rumorten die Bagger – denen würde sie sich gleich widmen. Der fallende Schnee bezauberte sie aktuell zu sehr. Die Flocken fielen nicht, viel mehr schwebten sie herab – Es war ein wunderschöner Anblick, zart und leicht und rein. Und die ganze Welt rundherum erweckte den gleichen Eindruck in ihr: die Bäume, die vorher noch grün gewesen und jetzt allesamt in weiße, watteähnliche Kleider gewandet waren; der Hügel, der nun aussah wie ein sanfter Gugelhupf; der Wanderweg vor ihr, der so wirkte, als könnte man auf ihm entlangschweben. Sie sah zu Boden und merkte, wie die Füße ihres Charakters tief im Schnee eingesunken waren. Ein Blick nach hinten führten zum nächsten einzigartigen Anblick: die Spur, die sie bei den Schritten, die sie seit ihrer Ankunft hier herumgestolpert war, gemacht hatte, war das Einzige, was die unberührte Schneedecke zierte.

Begeistert lief Claudia los. Ließ sich in das bezaubernde Weiß fallen, ruderte mit den Armen herum, tobte hin und tollte her und fühlte sich so jung, wie sie es seit Jahren nicht getan hatte. Den Ölboss würde sie sich gleich vornehmen. Jetzt einmal würde sie dieses Wunder genießen, das es in der echten Welt schon lang nicht mehr gab. Und auf einmal wurde ihr wehmütig ums Herz, als sie daran dachte, was sie alles nie sehen würde, welche anderen Wunder sie verpasst hatte. Schnee. Elefanten. Wale. Große Wälder. Bis jetzt waren das alles nur Wörter gewesen, aber auf einmal hätte sie alles dafür gegeben, zu erfahren, wie sich diese Wörter anfühlten. Wie sie aussahen. Und auf einmal war sie wütend auf die Menschen, die dies zugelassen hatten, die Flugzeuge, die Autofahrer, die Kohlekraftverfechter. WARUM HABT IHR NICHTS GETAN?!
Mit großen Augen und großem Herzen nahm sie die Brille wieder ab.

„Lukas? Ich weiß jetzt, was ein watteweiches Winterwunderland ist. Willst du es einmal anschauen?“

Autorin / Autor: Jonas Lesigang, 21 Jahre