Grau lag der Schleier der Abenddämmerung über den Feldern. Riesige Flächen aus wogenden Stängeln, nur selten unterbrochen durch schmale Heckenstreifen, welche die Felder nun wie eine schwarze Mauer umzäunten. Es war vollkommen still darin, keine Vögel sangen, kein Wind flüsterte – und doch regte sich Leben. Zwei grüne Punkte glommen im Unterholz auf, dann schob sich langsam ein runder Kopf hervor. Eine Wildkatze löste sich aus den Hecken, sah sich um und huschte dann zum nächsten Feldrain. Schon lange war sie auf der Suche nach einem Wald, in dem sie leben konnte. Stets war sie von einem kleinen Dickicht ins nächste geschlüpft, um im Unterholz ausreichend Deckung zu finden. Doch bei den riesigen Feldern mit immer weniger Hecken wurde dies zunehmend ein schwieriges Unterfangen.
Plötzlich erfüllte ein ohrenbetäubendes Brüllen die Luft. Es kam von dem grauen Pfad, der sich durch die Felder schlängelte – genauer gesagt von den stinkenden Knurrern, die auf seiner Oberfläche rannten. Angewidert von ihrem Gestank zuckte die Wildkatze mit den Schnurrhaaren und zog sich in ein großes Grasbüschel zurück. Sie wartete einen günstigen Moment ab, nahm all ihren Mut zusammen und rannte auf den Rand des Pfades zu. Doch sie kam nicht weit. Eine Wand aus harten, geflochtenen Ästen versperrte ihr den Weg, noch bevor sie den grauen Pfad überhaupt erreichte. Ein Stück lief sie daran entlang, um nach einer Öffnung zu suchen, doch vergeblich. Sie wollte gerade aufgeben und zu den Hecken zurückkehren, als ihr ein beißender Geruch in die Nase drang, der jedoch nicht von den Knurrern stammte.
Fuchs, dachte die Wildkatze und sträubte das Fell. Ich will lieber nicht auf ihn treffen … Aber wenn ich seiner Spur folge, finde ich vielleicht einen Weg über den grauen Pfad.
Eine Weile folgte sie der Fährte, bis sie tatsächlich auf eine Öffnung in der geflochtenen Wand traf. Dort führte eine Brücke über den grauen Pfad, die perfekte Gelegenheit! Doch kaum hatte die Wildkatze eine Pfote auf die Brücke gesetzt, zuckte sie zurück. Der Boden war hart und tot, ohne eine Pflanze darauf – und kurz darauf wusste sie auch, wieso. Mit einem schrecklichen Jaulen kam ein Knurrer über die Brücke gerannt, nur ein paar Schnurrhaare breit an ihrem Gesicht vorbei. Fauchend sprang die Wildkatze zurück und rannte zu den schützenden Hecken zurück. Die dummen Füchse gingen vielleicht über diese Brücke, aber sie war nicht so lebensmüde! Doch … wie sollte sie nun auf die andere Seite gelangen?
Als sie in einiger Entfernung das Mahlen von Zähnen hörte, wandte sich die Wildkatze um. Ein Rehbock stand neben ihr in der Hecke und ließ sich einige Knospen schmecken.
„Guten Abend“, miaute sie.
Der Bock warf sofort den Kopf hoch und blickte sich hastig um.
„Wer ist da? Nein, ich schmecke nicht!“
„Ich bin nur eine Wildkatze, vor mir brauchst du keine Angst zu haben“, schnurrte sie belustigt. „Ich wollte dich nur fragen, wie man über den grauen Pfad kommt?“
„Über den Pfad mit den stinkenden Knurrern? Am beste gar nicht“, antwortete der Rehbock prompt. „Es gibt zwar eine Brücke, aber die ist genauso hart und stinkend wie der Pfad selbst. Auf die setze ich keinen Huf!“
„Und ich keine Pfote…“, murmelte die Wildkatze.
„Das solltet ihr auch nicht“, quakte eine Stimme vom Boden, wo sich eine Erdkröte im Laub versteckt hatte. „Diese Brücke ist nicht nur hart, sondern auch gefährlich. 23 meiner Geschwister sind bei ihrem Weg auf die andere Seite von den Knurrern getötet worden. Ich selbst habe es nur knapp geschafft.“
„Oh nein“, maunzte die Wildkatze leise. „Also kann kein Tier die Brücken überqueren?“
„Nur Füchse und Wölfe, die anscheinend keine Angst vor den Knurrern haben. Oder Tiere, die fliegen können“, antwortete der Rehbock.
„Nein, selbst die fliegenden Tiere sind nicht sicher“, warf die Kröte ein. „Die Fledermaus erzählte mir erst kürzlich, dass auch Mitglieder ihrer Kolonie von den Knurrern gefressen worden.“
Der Rehbock zuckte nervös mit den Ohren. „Da siehst du es, Katze. Wo die stinkenden Knurrer rennen, ist kein Platz für uns. Die einzigen Brücken, die darüber führen, sind grau und tot.“
„Nein, nicht alle.“
Die drei Tiere blickten überrascht auf, als sich ein Viertes näherte. Sie mussten steil nach oben sehen, um die Silhouette eines mächtigen Geweihs zu erkennen, welches sich durch die Hecke schob. Nun blieb der Hirsch vor ihnen stehen und begann zu sprechen:
„Ich bin viel gewandert, und es stimmt, hier sind alle Brücken genauso gefährlich wie der graue Pfad selbst. Doch weiter im Norden gibt es die grünen Brücken. Sie sind breit genug, dass ein ganzes Hirschrudel auf ihnen laufen kann, mit Bäumen und Büscheh, zwischen denen man sich verstecken kann, und saftigen Kräutern. Hmm …“, machte der Hirsch und leckte sich über die Nüstern.
„Grüne Brücken?“, die Wildkatze horchte auf.
„Ja“, bestätigte der Hirsch. „Auf ihnen können alle Tiere, von der kleinen Kröte bis hin zum großen Hirsch sicher die grauen Pfade überqueren.“
„Wirklich?“, quakte die Erdkröte. „Das klingt schon sehr verlockend.“
„Aber es ist ein sehr weiter Weg, um zu ihnen zu gelangen. Ich musste auf meinen Reisen bereits viele graue Pfade umgehen. Die meisten Hirsche geben schon früher auf, ich habe noch keinen einzigen getroffen, der es bis hierher geschafft hat. Wie soll ich da im Herbst jemals ein Rudel Hirschkühe finden? Nein“, meinte der Hirsch und schüttelte sein Geweih. „Da gehe ich lieber wieder in den Norden zurück.“
Die Wildkatze blinzelte, ihre grünen Augen glühten wie zwei Glühwürmchen, als sie zu dem Hirsch aufblickte.
„Ich möchte mitkommen“, miaute sie. „Ich will nach Norden wandern und diese grünen Brücken mit eigenen Augen sehen.“
Und so suchte die Wildkatze weiter nach einem Wald, den sie ihr Zuhause nennen konnte. Auf ihrem Weg nach Norden schlüpfte sie erneut von Dickicht zu Dickicht und kam immer wieder an den grauen Pfaden vorbei, die ihr den Weg jäh abschnitten. Sie würde ihnen wohl nie ganz entgehen können, doch vielleicht konnte sie sie bald überwinden. Mithilfe der grünen Brücken.