Wie etwas so Schönes gleichzeitig auch so schrecklich sein kann
Einsendung von Samira, 18 Jahre
Das stetige Piepen der Geräte erfüllt den Raum, begleitet vom hüstelnden Röhren des mit Benzin betriebenen Energiegenerators. Die früher mal weißen, sterilen Böden vergilbt vom Dreck und Schmutz der Jahre der Verwahrlosung und Isolation. Ein kalter, den Winter ankündigenden Wind schleicht sich durch die Risse im verdreckten Fenster und hüllt den Raum in eine alles erstarrende Kälte. Das Pfeifen von Boreas eine ständige Erinnerung an die herannahende Periode des Hungers, der Angst, der Verzweiflung und schließlich des Todes.
Inmitten dieses Ortes, wo lediglich die Schatten der Vergangenheit lebendig sind, ein Ort, der trotz Teil der Welt der Mortalium von Pluto dominiert zu werden scheint, der wie die auf dem Fliesenboden verteilten Herbstblätter ein Bild der Vergänglichkeit porträtiert, hat sich vor einigen Stunden ein Wunder der Natur, ein Zeichen des Lebens, gezeigt: Die Stunden der Qual, die durch die verwaisten Flure hallenden Schmerzensschreie, der salzige Geruch nach Schweiß, Tränen und Blut und dann erschöpftes, leises Stöhnen und lautes, hohes Kindergeschrei sind nur noch eine entfernte Erinnerung an die Geburt, die sich zuvor hier ereignet hat. Von Freude, Euphorie, Überschwang oder Zelebration ist jedoch nichts zu erkennen, als unterdrücktes Schluchzen von den rissigen, einst himmelblau tapezierten Wänden widerhallt.
Die verwahrloste Gestalt einer jungen, zusammengekauerten Frau ist auf dem Bett inmitten des Zimmers auszumachen: Strähniges, verfilztes Haar fällt in ein abgemagertes, blasses Gesicht, das nur noch entfernt an die einst schöne Frau mit den vollen, geröteten Wangen und dem ebenholzfarbenen, prächtigen Haar erinnert. Am prominentesten sind jedoch ihre obsidianfarbenen Augen, die ihr einstiges Funkeln der Hoffnung verloren und stattdessen einem mit einem Hauch von Wahnsinn entgegen blitzen. In einem seltenen Moment der Klarheit klammert sich die neu gewordene Mutter krampfhaft um das kleine Bündel in ihren Händen, während ihr unentwegt Tränen über die Wangen laufen und unterdrückte Schluchzer ihren Körper gewaltsam durchschütteln.
Sie trauert um die fehlende Zukunft und Perspektive ihres Kindes, darum, dass es nie miterleben wird, wie die Welt von einer funkelnden Eisschicht gleich Puderzucker bedeckt wird, dass es nie die Möglichkeit haben wird, unzählige extinkte Tierarten im echten Leben zu erblicken oder gar von einer Biene gestochen zu werden. Vor allem aber stürzt der Gedanke, dass sie, ihre Eltern und davor ihre Großeltern Schuld an dieser irreversiblen Situation sind, in eine Spirale der alles zerfressenden Schuld, des Bedauerns und schlussendlich der Verzweiflung. Denn es gibt keine Möglichkeit die Fehler der Vergangenheit rückgängig zu machen, weshalb die Flucht in eine heile Traumwelt der einzige Weg für sie ist, um der Realität und somit auch den schrecklichen Konsequenzen von Ignoranz und Gier zu entkommen.
Autorin / Autor: Samira, 18 Jahre