Erinnerung

Einsendung von Luisa Sophie Günther, 20 Jahre

Smaragdgrün.
Das war alles, was sie sah, als sie die Augen öffnete.
Sie blinzelte. Nach und nach stellte sich ihre Umgebung scharf und sie erkannte, wo sie sich befand. Der Wald, den sie schon aus ihrer Kindheit kannte, hatte sich nicht verändert. Sie stand auf einer Lichtung, umgeben von hohen Bäumen, deren volle Laubkronen Schattenspiele auf dem satten Grün der Wiese hinterließen. Sie sah den Wind, der durch die Äste fuhr und ein paar Blätter durch die Luft wirbelte. Eines dieser Blätter trudelte direkt auf sie zu und landete schließlich vor ihren Füßen. Ahorn, erinnerte sie sich. So hatte ihr Großvater diese Baumart genannt. Sie beobachtete wie ein Käfer den Rand des Blattes erklomm. Mit seinen kleinen, starken Beinchen hievte er seinen schweren Körper auf die grüne Fläche. Maikäfer, kam ihr in den Sinn.
Ein Knacken im Unterholz ließ sie aufblicken. Vögel schreckten aus den Bäumen auf. Sie trat einen Schritt zurück und wartete ab. Das Rauschen des Windes war laut zu hören, aber ansonsten war es still. Bedächtig langsam und aufmerksam trat ein Wesen auf die Lichtung. Sein großer schlanker Körper hatte etwas Majestätisches. Das Fell glänzte golden im Sonnenlicht. Sie hielt den Atem an, um das Tier nicht zu verschrecken. Ein Hirsch, hörte sie die Stimme ihres Großvaters, der König des Waldes.
Er hatte Recht, dachte sie. So anmutig konnte sich nur ein wahrer König bewegen.
Sie streckte ihre Hand aus. Etwas lag darin. Sie öffnete ihre Faust und sah eine kleine, braune Frucht. Eine Kastanie, wie sie nun feststellte. Sie hob den Blick und sah, wie nah der große Hirsch ihr nun war. Sein Geweih machte ihr Angst, aber sie spürte die Hand ihres Großvaters im Rücken. Er tut dir nichts, sagte er beruhigend. Sie blieb ganz ruhig stehen und beobachtete, wie das Tier die wenigen Meter überwand, die sie noch trennten. Ganz vorsichtig, sodass sie die feinen Härchen an ihrer Hand entlangstreichen spürte, nahm der Hirsch ihr die Kastanie ab. Sie lächelte stolz und sah ihren Großvater an. Gut gemacht, meinte er und strich ihr über den Kopf. Das Tier beobachtete aufmerksam mit seinen großen braunen Augen, wie sie erneut die Hand nach vorn streckte. Eine weitere Kastanie lag darin.
„Die Zeit ist um“
Bitte nicht, dachte sie und machte einen kleinen Schritt auf den Hirsch zu. Die Kastanie in ihrer Hand zitterte.
„Die Zeit ist um“
Sie nahm diesen Anblick in sich auf. Der vom Wind rauschende Wald. Durch die Luft wirbelnde Blätter. Sonnenstrahlen, die sich ihren Weg durch die dichten Laubkronen suchten. Alles in Smaragdgrün.
Eine Berührung am Kopf und sie schloss die Augen.
Betongrau.
Das war alles, was sie sah, als sie nun die Augen öffnete. Man hatte ihr die Brille bereits abgenommen und sie blickte auf die Wand des Zimmers. Ein Mann in weißem Kittel erschien in ihrem Blickfeld.
„Beeilen Sie sich, der Nächste wartet schon“
Sie nickte und erhob sich von dem harten Stuhl, auf dem sie die letzten Minuten verbracht hatte. Ihr Rücken schmerzte, genauso wie ihr Kopf, eine der unschönen Nebenwirkungen dieser Prozedur. Sie wusste, dass der Kopfschmerz im Laufe der nächsten Stunden vorübergehen würde. Das tat er immer.
Sie verließ den Raum, ging vorbei an der Schlange von Wartenden. Das Visualisieren von Erinnerungen war eine der wenigen technischen Errungenschaften der letzten Jahre, die sie für sinnvoll hielt. Respektvolles Nicken wurde ihr zuteil und sie erwiderte jedes Einzelne davon. Sie wusste, dass sie eine der Wenigen war, die sich noch an die alten Zeiten erinnern konnte.
Grüne Zeiten. Smaragdgrüne.
Bevor das große Baumsterben und mit ihm das Insektensterben begann. Bevor die Tiere starben, weil sie keine Lebensräume mehr hatten. Und bevor alles nur noch aus Metall und Beton bestand.
Die Jüngeren ihrer Gesellschaft kannten nichts anderes, als die Betonwüste, in der sie nun lebten, deswegen konnten sie diese alten Zeiten auch nicht vermissen, das war ihr bewusst. Sie schloss die Tür ihrer kleinen Wohnung auf.
Die Wände waren grün gestrichen. Der Teppich erinnerte an Gras. Blüten waren auf die Lampenschirme gemalt. Ihr kleine grüne Oase in einer grauen Welt.
Sie blickte aus dem Fenster, hinaus in die Ferne und träumte von der Zeit, die nur noch in ihren Erinnerungen existierte. Sie stellte sich vor, das Rauschen der Autos auf der Straße wäre das Rauschen der Blätter und schloss für einen Moment die Augen.
Ein leises Klopfen ließ sie aufhorchen.
Sie öffnete die Tür.
Ein Mädchen stand davor. Mit zwei geflochtenen Zöpfen und einem fröhlichen Lächeln auf den Lippen. Ihre grünen Augen strahlten.
„Erzählst du mir, was du heute gesehen hast?“
Das Mädchen hüpfte in die Wohnung und setzte sich auf einen der geblümten Sessel.
Sie war nun alt genug, entschied sie und drehte sich zu ihrem Schreibtisch. Sie öffnete eine kleine Schublade und holte ihren größten Schatz aus einem kleinen samtbezogenen Kästchen.
Sie legte ihn dem kleinen Mädchen vorsichtig in die Hand. Ehrfurchtsvoll betrachtete es seine geschlossene Faust und öffnete diese dann Finger für Finger.
Und inmitten ihrer kleinen, kindlichen Hand lag glatt und glänzend eine Kastanie.

Autorin / Autor: Luisa Sophie Günther, 20 Jahre