Die Pfütze vor Margrits Füßen ist so trüb wie ihre Gedanken, ihre Kleidung so altmodisch wie ihr Name. Klar, neue Sachen kann man sich nicht leisten, schon lange nicht mehr. Margrit lässt den Blick über das Meer gleiten. Wellen wölben sich unter der unbarmherzig glühenden Sonne, scheinen Margrit zu rufen. Langsam lässt sie ihre Taucherbrille vor die Augen schnappen. Das Wasser fühlt sich lauwarm an, als Margrit ihre Zehen hineinsteckt. Erst als sie bis zu den Knien im Meer steht, wird es kühler. Von hier sieht das Meer schön aus, auf eine seltsame Art natürlich. Was der Ozean doch für ein Schauspieler ist, denkt Margrit. Weit und unendlich lockt er einen, doch unter der Oberfläche ist nichts, weniger als nichts. Wie immer lässt Margrit sich verführen, gibt sich wie jedes Mal der Hoffnung hin, etwas könnte sich verändert haben. Vielleicht ein bisschen mehr Dokumentarfilm, ein bisschen weniger Realität. Doch sobald Margrit die ersten Schwimmzüge getan hat, weiß sie wieder, dass es auch dieses Mal aussichtlos ist. Plastiktüten dümpeln herum. Als wären sie heimische Tierarten, kaum mehr wegzudenken. Das Wasser ist trüb, in weiter Ferne schimmert ein geisterhaft totes Korallenriff. Akzeptier es endlich, denkt Margrit, als sie sich zehn Minuten später wieder auf den Strand fallen ließ. Geh nach Hause und schmeiß die alten Bücher mit Schnee und Regenwäldern und sauberer Luft weg. Geh nach Hause und schau dir Dokus über Wirbelstürme und Artensterben an. Komm an im Jahr 2100. Doch Margrit kann nicht. Sie kann dem Meer nicht den Rücken zukehren. Die Pfütze vor ihren Füßen scheint noch trüber geworden zu sein.
Die Wellen wiegen Marla sanft hin und her, während sie auf der Meeresoberfläche liegt. Ein Stoß mit ihren neuen Flossen und sie gleitet gleich mehrere Meter voran. Nun kommt unter ihr ein Korallenriff in Sicht, bunt, vielfältig, wimmelnd vor Leben. Die wasserdichte Uhr, mit der sie die verschiedenen Arten identifizieren könnte, hat Marla am Strand gelassen, solch eine Ablenkung kann sie jetzt nicht brauchen. Sie hat kaum Zeit, einen Fisch genauer zu betrachten, schon ist er vorbeigeschossen, auf der Suche nach Beute oder vielleicht auch nach einem Partner. Eine Gruppe blauer Putzerfische schwimmt vorbei wie eine lebendige Wolke, voller Eifer stürzen sie sich auf einen näher kommenden Fisch. Das Tier ist völlig gelassen, während die Putzerfische sich an die Säuberung seiner Haut machen. Es ist mehr als ein Riff, denkt Marla. Es ist ein Paradies, ein einziges Reich voller Leben und Farbe und Wesen mit Geheimnissen, die Menschen niemals kennen werden. Es ist kaum möglich den Blick abzuwenden und es erscheint Marla wie das größte Glück, das hier sehen zu dürfen. Wenn sie daran denkt, was die Menschen geschafft haben, wird ihr ganz warm ums Herz. Noch immer schwimmen quallenartige Plastiktüten durch die Meere, doch hier ist nichts davon zu sehen. Marla stößt mit dem Kopf durch die Wasseroberfläche um reine, klare Luft zu atmen. Wie wäre es nur gekommen, wenn man die Kohlekraftwerke nicht abgeschaltet hätte? Würde dann an dieser Stelle ein Wirbelsturm entlang fegen? Wäre das wimmelnde Leben unter ihren Füßen vielleicht nur geisterhafter Tod? Marla kann es sich kaum vorstellen und das ist ein Glück, denkt sie. Das Jahr 2100 wird seiner runden Jahreszahl mehr als gerecht. Man ist zum ersten Mal sicher, dass man den Klimawandel in den Griff bekommen wird, nie wurde weniger Regenwald abgeholzt, nie landete weniger Plastik im Meer. Das lange Schwimmen spürt Marla inzwischen in den Beinen, durch das klare Wasser paddelt sie zurück zum Strand. Vor ihren Füßen ist eine Pfütze. Sie beugt sich vor und blickt hinein, sieht die Spiegelung der Wolken und des Himmels, der sie aus blauen Augen anzuschauen scheint. Blaue Augen, die seltsam traurig wirken.
Margrit denkt an all die Menschen, die auf Grund des Klimawandels ihre Heimat verlassen haben. Menschen, die alles verloren haben. Es sind nicht nur die Dinge, die ganz offensichtlich sind. Wassermangel. Naturkatastrophen. Geflüchtete. Da ist noch etwas anderes in Margrits Innerem. Eine Leere. Es fehlt etwas, von dem die Menschen vor 80 Jahren täglich Gebrauch machten ohne eine Ahnung davon zu haben. Das Wissen um ihre Erde, die Natur, das Bunte, das Einzigartige. Das Wissen darum, dass sie auf einem starken Planeten leben. Einem Planeten auf dem es vor Leben wimmelt. Leben, das es zu entdecken gilt. Kaum etwas ist von diesem Gefühl übrig geblieben. Margrit starrt in die Pfütze vor ihren Füßen. Sie zuckt zusammen. Sie beugt sich vor. Augen blicken zurück, Augen so blau wie ihre. Es ist beinahe ihr Gesicht. Aber nur beinahe. Das Lächeln, das dieses Gesicht besitzt, hat Margrit nicht. In der Pfütze spiegelt sich das Meer. Es ist anders als das Meer, das Margrit kennt. Sie kann es nicht sehen, sie fühlt es einfach. Margrit schluckt. Es ist, als würde sie in eine andere Welt blicken. Eine Welt, in der die Erde das ist, was sie einmal war. Eine Welt, in der Margrit die ist, die sie gerne wäre. Gibt es eine Chance auf diese Welt? Nein. Aber es gab sie einmal. Vor nicht allzu langer Zeit.
Gedankenverloren hebt Marla wieder den Kopf, streicht mit den Fingern durch die kühle Pfütze. Auf einmal hat sie Lust, wieder zurück ins Meer zu gehen. Diesmal lässt sie auch ihre Flossen am Strand, stattdessen schwimmt sie selbst durch die Wellen, ausgerüstet nur mit einer Taucherbrille und einem Schnorchel. Sanft umspült das Meer Marlas nackte Füße, während sie immer weiter taucht. Da, eine Bewegung auf dem Meeresgrund! Marlas Herz klopft schneller, langsam schwimmt sie weiter. Jetzt sieht sie es ganz deutlich, es ist ein Rochen! Marla kann ihr Glück kaum fassen, als das Tier sich anmutig von Sand befreit und dann durch das Wasser davon schwebt. Schwerelos, ohne Eile, mit langen, weiten Bewegungen. Er ist herrlich mit anzusehen, schöner als alles andere an diesem Tag. Majestätisch schwebt der Rochen dahin, wie ein einziger, tiefer Ton im vielstimmigen Orchester Ozean.