Hoffnung

Einsendung von Martin Schulz, 25 Jahre

Leise schließe ich die Tür zu der Wohnung von meinem Großvater auf. Ich nehme meinen Mund-Nasen-Schutz ab und wasche mir gründlich die Hände.

Seitdem der Virus grassiert, verlässt mein Großvater aus Angst vor Ansteckung das Haus nicht mehr, aber auch weil er im hohen Alter nicht mehr so gut zu Fuß ist. Ich bin sein einziger Kontakt zur Außenwelt und besuche ihn täglich, versorge ihn mit Lebensmitteln und leiste ihm ein paar Stunden Gesellschaft.

Im Wohnzimmer dringt fahles Licht durch das Fenster und nur eine kleine Leselampe spendet dürftiges Licht. Mein Großvater sitzt in seinem bequemen Sessel und blättert in einem vergilbten Fotoalbum. 

Als er mich sieht, sagt er erfreut:

„Schön, dass du da bist, mein Junge.“

Er zeigt auf ein Bild, auf dem er als kleiner Junge mit seiner Mutter in ländlicher Umgebung abgebildet ist.

„Hier waren wir während des 2. Weltkriegs auf dem Land beim Bauern und haben Kartoffeln gehamstert.“

Ich lausche andächtig seinen Anekdoten von früher und schließlich klappt er das Album zu.
„Wie geht es dir heute?“, frage ich ihn.

„Recht gut. Ich habe ein wenig gelesen und auf dich gewartet.“

„Warum ist in letzter Zeit der Himmel immer so grau?“, fragt er, „es ist doch Frühling und ich habe die Sonne schon ewig nicht mehr gesehen.“

Durch den Klimawandel haben sich die Jahreszeiten verschoben, möchte ich am liebsten antworten, aber ich beiße mir auf die Zunge; ich möchte ihn nicht beunruhigen.
„In letzter Zeit herrscht oft schlechtes Wetter und die Wolken hängen tief. Kein Grund zur Sorge.“

„Aber sag mir, wo sind die Vögel? Ihr Zwitschern hat mich doch sonst immer schon frühmorgens aufgeweckt.“

Diesmal ist die Antwort nicht so einfach, aber ich möchte ihm seine heile Welt bewahren. Er muss nicht wissen, dass draußen der Virus weiterhin wütet und wenn die Menschen nicht in naher Zukunft eine Lösung finden, ein Überleben nicht mehr gesichert ist. Der Klimawandel hat sein Übriges dazu getan, dass die Welt dem Untergang geweiht ist. Dürre und Überschwemmungen suchen die Länder heim und die Tiere finden keine Nahrung mehr.

Nach kurzer Überlegung antworte ich:

„Dieses Jahr sind die Vögel nicht so aktiv und munter wie sonst, weil es draußen so trübe ist. Aber ich bin mir sicher, dass sie bald wieder umherfliegen werden.“
Er scheint mit der Auskunft zufrieden und hakt nicht weiter nach.

In der Küche bereite ich aus Toastbrot, Eiern und Zucker “Arme Ritter“ zu, das Lieblingsessen seiner Kindheit. Im Küchenschrank finde ich noch eine angebrochene Tüte mit Haferflocken und backe ihm daraus einen Kuchen.

Es ist heutzutage wie in Kriegszeiten, man begnügt sich mit dem wenigen, was man hat.

Während wir unser einfaches Mahl zu uns nehmen, kommt mir eine Idee:

„Wie würde es dir gefallen, wenn ich bei dir einziehen würde?“, frage ich ihn.

„Mein Studium kann ich auch online von hier aus fortführen und du bist dann nicht mehr allein.“

Ein Lächeln erhellt sein Gesicht.

„Ich würde mich sehr darüber freuen. Aber ich möchte dir nicht zur Last fallen.“

„Nein, darüber musst du dir keine Gedanken machen. Morgen können wir dann alles besprechen.“

Wie jeden Tag spielen wir eine Partie Schach. Nach einem erbitterten Kampf der Figuren, sagt mein Großvater sichtlich stolz:

„Schachmatt.“

Er freut sich über seinen Sieg und ich sage anerkennend:

„Du bist immer noch der Beste.“

Als ich meinen Großvater am späten Nachmittag verlasse, ist er schon eingedöst. Er strahlt eine große Einsamkeit aus und ich möchte ihm seinen Lebensabend unter diesen widrigen Umständen so angenehm wie möglich gestalten.

Ich nehme mir vor, mein Vorhaben baldmöglichst in die Tat umzusetzen. Dann müsste ich nicht mehr jeden Tag den Weg zu seiner Wohnung zurücklegen und dadurch würde sich auch die Gefahr verringern, dass ich den Virus bei ihm einschleppe. 

Es ist grau und neblig, als ich auf die Straße trete. Die Luft ist stickig und unter meiner Schutzmaske kann ich kaum atmen. Die Straßen sind wie ausgestorben und beängstigend still. Die meisten Menschen bleiben zu Hause und verlassen selten ihre Wohnung. Manchmal huscht eine dunkle, vermummte Gestalt mit tief in die Stirn gezogener Kapuze an mir vorüber.

An den Straßenecken lungern viele Drogenabhängige herum. Es überkommt mich jedes Mal ein gewisses Unbehagen, wenn ich unterwegs bin. Gelegentlich patrouillieren Polizisten, um der Bevölkerung ein Gefühl der Sicherheit zu vermitteln.

Ich überquere die Hauptstraße, vorbei an leerstehenden Geschäften und Bauruinen, die wie schwarze Skelette auf ödem Brachland stehen. Diese Geisterstadt löst tiefe Mutlosigkeit in mir aus. Ich bin froh, dass mein Großvater abgeschottet in seiner eigenen Welt lebt und ich ihm nicht die ganze Wahrheit gesagt habe, wie es in der Realität wirklich aussieht. Es ist momentan besser, ihn in der Vergangenheit leben zu lassen.

Plötzlich wird das Tageslicht etwas heller und ein lauer Wind weht. Es riecht nach Erde und grünem Gras. Ich blinzele zum Himmel empor; ein winziger Sonnenstrahl bricht durch die dicke Wolkendecke. Habe ich nicht eben ein zaghaftes Vogelpiepsen vernommen?

Allmählich ist die Sonne jetzt in vollem Glanz erstrahlt und die Welt scheint zu neuem Leben erwacht. Farbenprächtige Krokusse recken ihre Blüten aus dem Erdreich und bunte Schmetterlinge flattern umher.

In den umliegenden Häusern öffnen sich weit die Fenster und die Menschen lassen die frische Luft in ihre dunklen Zimmer. Die Straße füllt sich langsam mit Jung und Alt und sie halten fröhlich ihre bleichen Gesichter in die wärmenden Sonnenstrahlen.

Der Frühling, auf den alle so lange sehnsüchtig gewartet haben, hat endlich Einzug gehalten!

Ich fühle in diesem Moment eine tiefe Verbundenheit mit der gesamten Menschheit und bin felsenfest davon überzeugt, dass es uns gelingen wird, den Virus zu besiegen und den Klimawandel weiter einzudämmen.

Hoffnung keimt in mir auf und voller Zuversicht setze ich meinen Weg fort.

Alles wird gut.

Wie sagt mein Großvater oft altersweise zu mir?

„Immer weitermachen, mein Junge, und niemals aufgeben.“

Autorin / Autor: Martin Schulz, 25 Jahre