Durch den Oberpfälzer Wald fließt ein kleiner Bach. Er ist nichts Besonderes, erzählt keine bedeutsame Geschichte, trägt keinen berühmten Namen. Solche wie ihn gibt es zu tausenden in ganz Deutschland und von jedem dieser Bäche können wir lernen, wie unsere Welt funktioniert.
Das Erfolgsrezept des Lebens auf dieser Erde ist die Diversifizierung. Die stete Ausbildung neuer spezialisierter Formen ist der Urtrieb, der die Artenvielfalt und so die Schönheit dieser Welt jeden Tag aufs Neue hervorbringt. Auch der Bach ist Teil dieser Schönheit. In seinem Oberlauf bahnt er sich mit zahlreichen Umwegen und verspielten Schnörkeln den Weg durch das Mittelgebirge. Sein klares und sauerstoffreiches Wasser beheimatet einige sehr anspruchsvolle Gemüter. In einer sanften Kehre, in der das Gewässer an Geschwindigkeit verliert, steht eine Bachforelle scheinbar mühelos in der Strömung und wartet auf den Schlupf einer Maifliege. Ihr goldener Körper ist kaum vom Kiesgrund zu unterscheiden, doch ihre zahlreichen roten Punkte blitzen auf, als sie den Kopf in Richtung Oberfläche reckt und sich den saftigen Happen vor ihren zahlreichen Kontrahenten schnappt. So idyllisch sich dieses Bild präsentiert, so intakt ist hier noch das Beziehungsgeflecht, das wir Natur nennen.
Das Erfolgsrezept des Menschen ist die Simplifizierung. Wir verändern unsere Umwelt gemäß dem trügerischen Ideal der Einheitlichkeit und entziehen so der Vielfalt, zu der letztlich auch wir gehören, die Entstehungsgrundlage. Diese Unstimmigkeit ist der Kern einer jeden ökologischen Katastrophe. Der Urwald, der einst Deutschland bedeckte, musste rasterförmig angelegten Fichten- und Kiefernplantagen weichen, Moorlandschaften wurden trockengelegt, um sie agrarisch nutzbar zu machen und auch unser Bach kann sich der menschlichen Hand nicht entziehen. Er fließt weiter in ein flacheres Gebiet. Wo einst ein ausgedehnter Auwald stand, säumen nun Nutzwiesen seinen Weg in eine kleine Ortschaft, vor der sich der Bach teilt. Sein natürlicher Lauf liegt nun, bis auf ein modrig riechendes Rinnsal, das nur nach Regenfällen noch den Namen Bächlein verdient, trocken, denn das Wasser wird in einen Kanal abgezweigt, der zu einer alten Mühle führt. Ein Mühlrad wird hier allerdings schon lange nicht mehr angetrieben, stattdessen ist das monotone Brummen eines kleinen Wasserkraftwerks zu hören, das rund um die Uhr günstigen Strom produziert. Bereits einige hundert Meter vor der Abzweigung am Stauwehr verliert der Bach an Fließgeschwindigkeit und mit ihr seinen fruchtbaren Kiesgrund. Wo sonst unterschiedlichste Arten von Insektenlarven, Flohkrebsen und die Laichgruben zahlreicher Fischarten anzutreffen wären, erstreckt sich nun eine zähe Schlammschicht über die einförmigen Betonwände des Zulaufkanals bis zum Kraftwerk. Obwohl sich das Leben auch hier nicht aufgibt und sich manche seiner Vertreter selbst an solch triste Bedingungen anpassten, ist die natürliche Reproduktion des Gewässers und somit seine einstige Diversität verloren.
Was diesem Bachabschnitt widerfahren ist, ereignet sich praktisch überall auf diesem Planeten. Die Durchsetzung der kurzsichtigen Partikularinteressen der Spezies Mensch wirkt entgegen der Prinzipien des Lebens. Angesichts dieser riesigen Diskrepanz scheinen die ökologischen Aufgaben, die uns bevorstehen, unlösbar zu sein. Doch wie so oft findet der Optimismus seine Gründe, denn das Problem liegt nicht im menschlichen Handeln selbst, sondern in dessen Tragweite und Beständigkeit. Glücklicherweise finden wir überall kleine und große Lehrer, die uns zeigen, dass wahre Produktivität in der Mäßigung liegt. Einer davon ist auch seit zwanzig Jahren wieder emsiger Bewohner des Baches. Über ein Jahrhundert war der Biber in fast ganz Deutschland ausgerottet und vielleicht war auch die menschliche Eitelkeit dafür ein Grund, die es nur schwer erträgt, die Überlegenheit des Baumeisters stets aufs Neue vorgeführt zu bekommen. Im Oberlauf des Baches hat sich ein einzelner Biber eingerichtet. Da dort das Wasser schnell und flach zwischen steilen bewaldeten Hängen das Tal durchschneidet, baute der Biber einen recht ansehnlichen Damm, der für eine tiefe und langsam fließende Strecke sorgt, wo sich der Nager wohl und sicher fühlt. Außerdem bleiben die zarten Zweige der im Damm verbauten Äste und Sträucher unter Wasser auch im Winter schmackhaft und vor allem zugänglich. Obwohl der Biber rund um die Uhr damit beschäftigt ist, kleine Schwachstellen mit weiteren Zweigen und Lehm auszubessern, kann sein Bauwerk an einigen Stellen den Bach nicht bändigen und darin liegt die Perfektion. Für Fische, die zum Laichen den Bach hinaufziehen, sind die Wanderwege nicht gänzlich versperrt, stattdessen finden sie nach dem Biberdamm einen willkommenen Rastplatz. Die Verästelungen bieten Jungfischen Schutz vor Fressfeinden und dank der Sonneneinstrahlung, die das fast stehende Wasser erwärmt, wimmelt es nur so vor Kleinstlebewesen und damit Futter. Kurzum, der Biberdamm lässt das Leben explodieren. Mit der Zeit schwemmt es auch hier so allerlei an und Schwebstoffe setzen sich auf dem Kiesgrund ab, doch bevor aus dem Überschwang triste Monotonie werden könnte, spült das nächste Hochwasser den Stolz des Bibers davon und was bleibt, ist die Vielfalt, die davon profitierte.
Ökologisch verträgliches Handeln nimmt sich den Biber zum Vorbild und mäßigt sich selbst in Tragweite und Beständigkeit, denn Nutzung der natürlichen Gegebenheiten muss keinesfalls in Einfalt münden. Sie kann ebenso willkommene Abwechslung bedeuten. Der amerikanische Naturschutzpionier Aldo Leopold schreibt 1949 in seiner Ethik des Landes: „Etwas ist dann richtig, wenn es die Integrität, Stabilität und Schönheit der biotischen Gemeinschaft bewahrt.“ Zugegeben, es ist eine große Aufgabe, die Grenzen menschlicher Freiheit auf diese Richtigkeit hin zu verschieben, doch innerhalb dieses neuen Rahmens werden unser Erfindergeist und unsere Betriebsamkeit zu wirklicher Produktivität führen.