Natur mit Mensch oder Mensch ohne Natur?
Einsendung von Hermann Heiler, 15 Jahre
Er überblickte alles. Er betrachtete alles ganz genau.
Anmutig ruhte der Kirschbaum auf seinem Hügel. Die formschöne Krone wiegte sich sanft im Wind, die Blätter säuselten Worte, mit denen er sich auszudrücken vermochte. Begierig nahm er die ersten goldenen Strahlen des Tages in sich auf.
Er war so stolz, so unglaublich stolz auf sein Geäst, das aus so unzähligen Zweigen bestand und doch voll Ordnung war, auf den mächtigen Schatten, den er in die Landschaft warf, auf seine Blätter, die Reinheit strahlten, aber vor Allem, vor Allem war er stolz auf die glänzend roten, runden Früchte, deren anziehende Pracht und unwiderstehlich süßer Duft bisher jeden verführt hatten.
Pünktlich wie eh und je traf er ein, der kleine Mann mit dem wuscheligen Haar und der großen, runden Brille, die seine blauen Augen riesig erscheinen ließen. Um den Hals trug er ein aufwendig besticktes Tuch, welches durch seine schnellen Schritte im Wind flatterte. Mit einer Leiter unter dem Arm, die ihn gefährlich ins Schwanken brachte, eilte er herbei, geradewegs auf den Baum zu. Voll Vorsicht lehnte er sein Mitbringsel sanft an den gewaltigen Stamm, um daraufhin ehrfürchtig auf die Knie zu fallen und mit den Fingern sacht über die Wurzeln der Pflanze zu streicheln. Seine Lippen berührten ängstlich die Rinde, er flüsterte unverständliche Worte. Nach der Begrüßung machte das Männlein sich umgehend an die Arbeit. Es galt, die Gesundheit des Baumes zu erhalten, jede noch so kleine Verunreinigung an Blättern oder Gehölz zu entfernen. Des Weiteren musste jede Blüte bestäubt oder kontrolliert und jede bereits entwickelte kleine Frucht überwacht werden. Wie jeden Tag war es danach seine Aufgabe, die winzigen Kirschen behutsam zu streicheln und zu polieren. Als zeitraubendste Tätigkeit erwies sich jedoch schon seit Längerem die Begutachtung jedes einzelnen Blattes und deren Säuberung von kleinen Läusen, die das Blattwerk an einigen Stellen hässlich schwarz färbten.
Gerade als der kleine Mann, auf der obersten Sprosse der Leiter stehend, seine Hand nach einem abscheulich stark befallenen Zweig ausstreckte, fegte eine heftige Böe über den Hügel. Ohne Mühe riss sie die winzige Person mit sich, von der zuerst ein markerschütternder Schrei und bei ihrem Aufprall ein scheußlich knirschendes Knacken ausging. Reglos verharrte der tote Körper im Gras, zugedeckt vom mächtigen Schatten des Baumes und somit kaum sichtbar. Mit der Wanderung der Sonne wurde der unbewegte Leib Stück für Stück entblößt.
Der Kirschbaum war zutiefst bestürzt. Nicht etwa wegen des Ablebens seines langjährigen Dieners, nein, seine Empörung fußte auf der Tatsache, dass sich seine abstoßende Leiche im Blickfeld des Baumes befand und sich ihm keine Möglichkeit darbot, diese Schande zu beseitigen.
Es dauerte nur wenige Tage bis sich nahezu das gesamte Blattwerk des Kirschbaumes verdunkelt hatte und sich jedes einzelne Blatt vor Schmerzen krümmte.
Nie wieder sollte er grünen, nie wieder alles überblicken, nie wieder alles ganz genau betrachten.
Autorin / Autor: Hermann Heiler