Wenn meine Mutter mir etwas Wichtiges sagen wollte, erzählte sie mir immer eine Geschichte. Ich war ein sehr zerzaustes und emotionales Kind, Analogien fielen mit leichter als Logik und ich liebte Adjektive, die die Dinge weiter, bunter und größer machten als sie es waren. Wenn also meine Mutter mir etwa beibringen wollte – und dieses Ziel scheinen Eltern aller Aussichtslosigkeit zum Trotz zu verfolgen – dann informierte sie nicht, sie erzählte. Und zwar immer von Tieren, denn eine Geschichte, in der Tiere nicht die einzigen Akteure waren, kam für mich gleich gar nicht infrage. Mach es wie die Schildkröte, Kleines, sei geduldig und strebsam, nicht wie der Hase, der gleich zu Beginn des Rennens alle seine Kräfte verbraucht. Denk an die Füchsin, die im entscheidenden Moment Hilfe erhält von Raupe, Fink und Haselmaus, zu denen sie zuletzt so gütig war.
Es heißt, dieses fast zwanghafte Bedürfnis, aus der Welt eine Narration zu machen, sei eine anthropologische Grundkonstante. Und es stimmt ja – wann immer mir etwas wichtig erscheint, will ich erzählen …
Vielleicht lebte irgendwo am Rand der Welt in einem Turm aus grünem Marmor ein Zauberer mit seinem Zauberlehrling. Der Zauberer hätte eine Stimme wie raues Leder, sein Bart wäre so lang, dass er die grünen Marmorböden streifte und seine Augen wären ganz sanft. Und sein Lehrling würde ihn verehren, er würde ihn für den weisesten Mann unter den Sternen halten und sein einziges Bestreben wäre es, ihn zufrieden zu stellen.
Wenn der Zauberer seinem Lehrling nun auftrüge, den ganzen Turm zu putzen und blank zu scheuern, alle dreihundertdreiundreißig Stockwerke, so würde sich der Lehrling voller Eifer an die Arbeit machen. Denn schließlich ist sein Meister weise und würde ihn nach dem Verrichten dieser Arbeit allerlei Wunder und Werke lehren.
Doch nachdem er dreihundertzweiunddreißig Stockwerke geputzt und blank gescheuert hat, trifft er im Dachgeschoss auf eine Fledermaus. Aufgescheucht von seinem wilden Wedeln mit dem Besen verlässt sie ihren Schlafplatz im Gebälk und flieht wie irr umher. Der Lehrling macht sich Sorgen, sein Meister könne sich gestört fühlen von dieser Fledermaus, der Turm ist nicht sauber mit diesem Tier darin, und so versucht er, sie zu vertreiben. Die Fledermaus ist flink wie fließendes Wasser, sie weicht seinen Besenschlägen aus und zeigt sich ungerührt von seinem Fluchen. Aber der Kampf zieht sich Stunde um Stunde hin und irgendwann ist die Fledermaus so erschöpft von ihrer Angst, dass sie in einer Ecke niedersinkt. Der Lehrling – von der stundenlangen Jagd frustriert – hebt den Besen hoch über seinen Kopf, um sie zu erschlagen.
Da tritt der Zauberer ein wie ein plötzlicher Gedanke, packt seine Hand mit dem Besen und hält sie fest. „Was soll das, mein Junge?“, fragt er und seine Augen sind sanft. „Warum willst du dieses arme Tier erschlagen?“
„Ich habe es für dich getan, Meister!“, sagt der Zaubererlehrling, vielleicht klingt sogar ein wenig Stolz aus seiner Stimme. „Dieses Tier verschmutzt deinen Dachboden, es fliegt hin und her und stört dich so bei deiner Arbeit!“
Der Zauberer aber beugt sich hinab mit knarzenden Kniegelenken und hebt die Fledermaus vom Boden auf. „Aber warum, mein Junge. Warum ist mein Empfinden denn wichtiger als das Empfinden dieses Tieres?“
„Wie meinst du das?“, fragt der Lehrling, dessen Wangen sich röten. Scham regt sich heiß in seiner Brust. „Du bist mein Meister. Du bist ein Mensch. Du kannst lieben und lachen und Geige spielen. Du machst dir tiefe Gedanken, barocke Sonette rühren dich zu Tränen, du sprichst viele Sprachen und deine Arbeit ist wichtig. Natürlich ist dein Empfinden wichtiger als das dieser Fledermaus, denn du empfindest viel mehr!“
Und in diesem Moment – so denke ich mir – würde der Zauberer seinen Lehrling ansehen mit Augen so weich wie Nerzfell, er würde beide Hände auf die Schläfen des Jungen pressen und ihm seinen schönsten Zaubertrick zeigen.
Und plötzlich wäre der Lehrling nicht mehr dort in dem marmorgrünen Turm am Rand der Welt, sondern tief unten im Meer. Grau und gewaltig der Leib des Leviathan, doch wogende Weite macht ihn schweben. Das Wasser wie Seide auf dem feinen Relief der Haut. Von den roten Riffen her hört sie den Gesang ihres Sohnes, das maritime Mosaik aller Laute durchdringend. Bald muss er wieder auftauchen, um Atem zu holen für seine Serenade. Hüte dich dann, hüte dich, schöner Minnesänger, vor den Schiffen und den Harpunen, die sie in deine Stimmbänder stoßen wollen, um dich zum Schweigen zu bringen. Hüte dich vor den öligen Schlieren dort auf dem Wasser, die deine Lungen verkleben und dich ersticken wollen. Denn wenn du dereinst verstummst und dein Leviathanenleib ganz reglos in der Schwärze treibt, dann werde ich bei dir bleiben Tag für Tag und der Schmerz wird jeden Laut dumpf machen.
Der Lehrling würde blinzeln und wäre anderorts, in andrer Haut. Er könnte Gerüche wie Farben schillern und fluoreszieren sehen, die Welt würde zersplittern in tausend Facetten und sich wieder zusammensetzen in tausend Tönen weichen Graus. Das Streicheln von Fell an Fell lohende Wärme in Raureifnächten, ein schrilles Geräusch wie ein Dolchstich im Nacken. Er könnte Freude und Angst an einem winzigen Zucken im Augenwinkel seines Bruders erkennen und seine Brust pulsierte mit tausendfachem Herzschlag, er reckte grüne Triebe hin zur Sonne.
Und zuletzt könnte er eine Welt aus Tönen modellieren, scharf geschnitten und tiefviolett. Seine Ohren sehen die Käfer im Gras und die Tauperlen im Pelz eines vorbeirennenden Fuchs. Die Familie ist fort, die zarten Klicklaute, das Flügelrascheln verstummt. Die Dunkelheit im Dachgebälk verspricht Geborgenheit. Bis dieser langgliedrige Schatten sich aus der Welt der Töne schält, betäubend laut und fremd. Feindselig …
Der Zauberer würde die Hände von den Schläfen seines Lehrlings nehmen und zärtlich sagen: „Mein Junge, du weißt doch gar nichts.“
Und niemals hätten die Hände eines Jungen eine Fledermaus so sanft geborgen.