Du hast es eilig. Als du den Supermarkt betrittst, wirst du sofort von knallbunten Sonderangebot-Schildern empfangen. Mit der linken Hand steuerst du den widerspenstigen Einkaufswagen. Die rechte kramt nach dem Einkaufszettel. Gemüseabteilung. Du brauchst Paprika und Gurken. Sofort springen dir strahlend rote Paprika ins Auge. Perfekt, sogar im Angebot. Schnell lässt du einige besonders große in eine Plastiktüte fallen. Du kommst an einer Reihe weiterer Sorten vorbei. Die sind vielleicht bio, denkst du. Aber sie kosten mehr. Außerdem hast du deine Brille vergessen und könntest die kleingedruckten Informationen gar nicht lesen. Redest du dir zumindest ein. Bei den Gurken, wieder: Ein Sonderangebot. Nimm 2, zahl 1. Klingt gut, findest du. Also nimmst du zwei in Plastik eingeschweißte Stücke. Weiter. Du schwebst durch die Gänge, greifst nach rechts und nach links, wirfst Artikel in deinen Einkaufswagen, die dir mit bunten Schildern entgegenschreien: Nimm mich mit, ich bin XXL, ich bin gut für dich! Also greifst du zu. Nur in der Fleischabteilung überkommt dich kurz ein ungutes Gefühl. Unauffällig schielst du hinüber zu den Leuten, die sich am Veggie-Kühlregal bedienen. Und dann, als niemand zu dir schaut, schnappst du dir eine Packung Sonderangebots-Würstchen und hastest zur Kassa. Du denkst dir, dass du heute wieder ein Schnäppchen gemacht hast. Das ist doch gut, und keiner kann dir das Gefühl der Zufriedenheit verderben, das dich überkommt.
Halt! Wir wissen alle, dass wir im Jahr 2020 nicht so einkaufen sollten. Versuchen wir es nochmal:
Bewaffnet mit einer Mehrwegeinkaufstasche näherst du dich der Gemüseabteilung. Auf deinem Einkaufszettel stehen Äpfel. Die Zahl der Sorten überwältigt dich. Konzentriert lässt du den Blick über die Schilder schweifen. Du hältst nach „bio“ und „regional“ Ausschau. Da! Bio-Topaz-Äpfel. Du willst schon danach greifen, als dir das Schild verrät, dass sie aus Italien kommen. Hm, lieber weitersuchen. Schon findest du eine Sorte aus der Region. Aber leider nicht bio. Fast kannst du dein Gehirn rattern hören, das damit beschäftigt ist, CO2-Emissionen auszurechnen. Schweiß tritt dir auf die Stirn. Kurz spielst du mit dem Gedanken, dein Handy herauszuholen und „besser bio oder regional“ zu googeln, aber du lässt es. Dann kaufst du eben heute keine Äpfel. Weiter zur Kühlabteilung. Fast möchtest du jubeln, als du die Bio-Milch entdeckst. Du hast sie schon eingesteckt, als sich ein ungutes Gefühl in dir regt. Die Packung enthält Plastik. Gibt es denn keine Milch in Mehrweg-Glasflaschen? Doch, da! Aber nicht bio, stellst du enttäuscht fest. Also bleibst du bei der Packung, aber nach wenigen Schritten fragt eine Stimme in deinem Kopf: Bist du sicher, dass du das verantworten kannst? Dein Herz klopft schneller. Eigentlich brauchst du die Milch nicht unbedingt. Eilig stellst du sie zurück. Dein Puls normalisiert sich wieder. Im Gang mit den Süßwaren greifst du nach einem Karton mit Bio-Keksen und kneifst die Augen zusammen, um die Inhaltsstoffe zu entziffern. Du freust dich, weil einige Zutaten aus der Region stammen. Aber was ist das? Palmöl? Beinahe möchtest du laut aufschreien. Erst letzte Woche hast du einen Artikel über Palmöl gelesen. Du weißt über die Herstellung und ihre Auswirkungen Bescheid. Eigentlich würdest du die Kekse gerne kaufen. Trotzdem lässt du den Gang hinter dir. Kurz schaust du zurück. Wenn du die Packung nicht mitnimmst und niemand sonst, wird sie weggeschmissen. All das aufwendig produzierte Essen landet im Müll, wenn du es nicht kaufst. Aber da ist doch Palmöl drinnen! Auch in den anderen Abteilungen hast du kein Glück. Du suchst und liest und fragst nach und stellst zurück und schließlich stehst du bei der Kassa. Mit einem gähnend leeren Korb.
Stopp! Das kann es doch wohl auch nicht sein. Nochmal zurück auf Anfang:
Bewaffnet mit einer Mehrwegeinkaufstasche näherst du dich der Gemüseabteilung. Du musst in den Supermarkt gehen, weil du Lebensmittel brauchst. Du bewunderst Menschen, die im Garten Lebensmittel anbauen. Für dich geht das leider nicht, weil du nur einen winzigen Balkon hast. Und der nächste Bauer ist kilometerweit entfernt. Lange stehst du vor den Äpfeln und überlegst: Lieber regional oder bio? Dir ist es wichtig, bewusst einzukaufen. Du weißt, dass wir an die Zukunft denken müssen. Dass wir einen Beitrag leisten können, um unsere Umwelt zu erhalten. Und es ist gut, dass du darüber nachdenkst. Denn Konsument*innen können beim Einkaufen etwas bewirken. Aber gleichzeitig kann es nicht sein, dass du ein schlechtes Gewissen haben musst, denkst du. Und du verpackst regionale Äpfel in deinen wiederverwendbaren Obstsäcken. In der Kühlabteilung greifst du entschlossen nach der Bio-Milch in der normalen Packung. Du brauchst die Milch. Und du nimmst sie jetzt einfach. Das schlechte Gewissen kommt trotzdem kurz. Schlechtes Gewissen. Irgendwie ein Phänomen der Zeit. Doch dir wird klar, dass du als Konsument nicht unbegrenzte Macht hast. Während du die Milch einpackst, denkst du aber, dass du vielleicht demnächst der Firma schreiben wirst. Du könntest dich ja erkundigen, aus welchen Gründen eine plastikfreie Verpackung (noch) nicht möglich ist. Diesmal findest du sogar Bio-Kekse ohne Palmöl. Die nimmst du mit. Palmöl in Produkten muss wirklich nicht sein. Kurz betrachtest du die Berge von Lebensmitteln. Es schmerzt, zu wissen, dass ein Teil davon im Müll landen wird. Tragen die Supermärkte die Schuld? Die Produzenten? Sicher nicht du, denkst du. Aber es gibt Initiativen, die du unterstützen könntest, um auf das Problem aufmerksam zu machen. Manche Dinge kannst du nicht direkt beeinflussen. Aber du könntest deine Meinung kundtun. Mit einigen Artikeln im Korb gehst du zur Kassa. Während du sie aufs Förderband legst, denkst du dir, dass Einkaufen ziemlich kompliziert geworden ist. Eigentlich ist alles heutzutage kompliziert. Aber du hast heute viel nachgedacht und achtsam eingekauft. Und das ist doch ein guter Anfang.