Wo sind sie? Wo sind die goldenen Häfen, welche die Verstoßenen begrüßen? Wo sind die silbrigen Seestraßen, die sich glitzernd durch die Ewigkeit schlängeln? Wir treiben ziellos umher. Unwissend und bedeutungslos zwischen den verblassenden Lichtermyriaden. Wer sind wir schon? Unwissende Seefahrer, die ferne und unbekannte Ufer ansteuern, deren Gezeiten sie nur vage zu erahnen vermögen.
Der alte Wind trägt uns auf sterilen Wellen aus der zyklopischen Nekropolis, die wir bisweilen Heimat nannten. Einst waren die Weltmachtsmetropolen unserer Zivilisation unbeugsame Leuchttürme gewesen. Keine Finsternis, kein Baron der Dunkelheit, konnte das Funkeln ihrer Gesichter trüben. Und nun? Es ist nichts mehr von ihrem güldenen Glanz. Alles zerfällt. Alles ist fort.
Das Licht ist verblasst. Die Vögel sind verstummt. Die hohen Dächer bröckeln, die schimmligen Wände beugen sich bedenklich und Rost und Ranken machen alles schäbig und abstrakt. Sie alle sterben – oder sie sind es schon längst. Wo einst lautes und geschäftiges Treiben war, ist nun eine anhaltende und grausame Stille. Wallender Nebel geistert zwischen grotesken Häuserschluchten durch die Straßen dieser dekadenten Dynastie …
Daher segeln wir Ärmsten nun verloren unter fremden Lichtern und blicken voller Angst in die maritimen Abgründe eines allumfassenden Schweigens. Die Segel dieses Kahns sind rau und stark, doch sind sie ahnungslos und ohne Kurs. Wenn wir rudern, so ohne Takt, denn keine Rhythmik kennt die Zeit. Wir treiben dahin, verloren in der Unendlichkeit, getrieben von Gewalten, die uns unbegreiflich sind und von deren Beschaffenheit wir nichts verstehen. Wir fahren weiter, immer weiter fort in die Verdammnis, ins ewige Exil. Unsere Forscher predigten bisweilen, dass all das deformierte Weltenmeer, zwar friedvoll sei und frei, doch auch vollkommen leer und tot. Dass nichts lebe innerhalb der stellaren Tiefseeschluchten …
So ängstigt uns keineswegs die Furcht vor unbekannten Größen, doch vielmehr diese Einsamkeit, diese entsetzlich öde Einsamkeit. Es ist sehr grausam, so allein zu sein. Zu wissen, dass man gänzlich fremd im Bann der bodenlosen Meere ist. Es gibt keine Karten dieser surrealen Welt. Wo soll der Anker landen, in welchen abyssalen Tiefen sich verhaken? Wenn es nur einen Hafen gäbe, der unsren armen Seelen Brot und Liebe könnt gewähren. Bedrohlich wölbt sich das namenlose Nichts allezeit und immerzu über unsren unerschütterlichen Mast hinweg. Seine einstmals buntbemalte Flagge ist nur noch der Schatten einer fernen Zeit.
Ich sehe meine Kameraden an der Reling stehen: Ein nicht fassbares Entsetzen glüht rücksichtlos im fernsten Jenseits der Pupillen und fast erstickende Säuselstimmen keuchen unablässig voller Sehnsucht in unbekannte, fremde Weiten. Ich höre ihre Rufe in Gebeten – Ist da jemand? Sie rufen rastlos Nacht um Nacht. Aber es gibt keine Antworten, die uns erreichen, nur Fragen, je weiter wir wandern…
Erst als die Stifte ruhten, die Zungen schwiegen und die Gedanken starben, erst da sahen wir, wonach wir so lange sehnten. Wir waren einem gleißenden Astrallicht gefolgt und eine zeitlose Ewigkeit zwischen abertausend Himmelskörpern verschiedenster Farben und Formen gekreuzt, als wir jenseits des Bugs ein verheißungsvolles Licht erlebten.
Eilig stürmten wir an Deck, nach vorne hin und sahen sie – die Erfüllung jeder hilflosen Séance: Wir sahen eine neue Welt, eine neue Heimat, eine zweite Chance. Und als wir schließlich an den Ufern landeten und die neuartigen Küsten betraten, da erschien sie uns strahlend, grell und gut, ja geradezu ideal – unsere neue Welt, unsere neue Heimat, unsere zweite Chance. Den vergilbten Geschichtsbüchern glich sie, in welchen die Rede von lebendigen Meeren und ambrosischen Ländereien war. Ein solches Panorama war uns bislang gänzlich unbekannt gewesen.
Und wir konnten nicht glauben, als wir in der Ferne neonfarbene Korallenstädte aus Gold und Silber sahen. Jungfräulich und schön. Ihre Einwohner hüllten sich in die edelsten Gewänder und sie empfingen uns königlich. Sie luden uns Waisenkinder in große Herrenhäuser, Königshöfe, Kaiserpaläste. Sodann standen wir auf hohen Balkonen, unter uns unberührte Landschaften uranfänglicher Eleganz.
Sie gaben uns eine Hoffnung, ein Licht, eine Zukunft. Wir sollten siedeln, wo immer wir mochten und uns nähren von den Gaben ihrer reich gefüllten Ländereien. Milch und Honig sollten wir aus ihren Flüssen trinken, Kekse und Plätzchen von ihren Bäumen naschen und Kuchen und Törtchen von ihren Feldern verkosten.
So zog denn die Zeit ins Land und mit ihr Tage und Nächte voller Arbeit, voller Anstrengung.
Regsam und tüchtig, ja geradezu emsig waren wir mit unserem Tun und schon bald schwebte der Geist unseres Schaffens über Wald und Wiesen dieser Welt.
Irgendwann kamen sie. Sie, die uns luden, ihre Gäste zu sein. Sie kamen und fragten, weshalb wir tiefe Gruben buddeln und weshalb wir Bäume schlachten und qualmende Schlote errichten.
Ein andermal kamen sie und fragten, warum die Flüsse trüb wurden und die Luft schwer und ihre Kinder krank.
Als sie uns alsbald erneut aufsuchten, da konnten wir einander kaum noch verstehen. Ihre Stimmen waren rau geworden und heiser; ihre Gesichter blass und ihr Gang war jetzt holprig und stockend. Immer wieder hatten wir ihnen unsere durch und durch gutmütigen und edlen Absichten versichert.
Nachfolgend blieb es uns zunächst eine ganze Zeit verborgen, ehe wir feststellen mussten, dass es hiernach keinen Besuch mehr gab, den wir hätten empfangen können.
Anfangs waren wir ja noch überzeugt, dass Besuch doch vollkommen überbewertet sei … Ja, wir wussten um jene neidvolle Krankheit, die uns Seefahrer aus der alten Heimat verstoßen hatte. Wir wussten es und wir wollten ihr keinen Nährboden bieten. Wir wollten sie davon abhalten, uns zu befallen.
Aber sie erfasste uns dennoch mit ungebremster Härte; überwältigte uns. Wir konnten uns ihr einfach nicht entziehen und mehr und mehr wuchs in uns der Gedanke vermeintlicher Immunität.
So fahren wir Seefahrer nun denn ein weiteres Mal hinaus. Hinaus in die Fremde, hinaus zu einer neuen Welt – hin zu unserer nächsten Chance.