Anne Frank - erinnern allein reicht nicht
"Ritualisiertes Gedenken ist nicht genug", sagt Dr. Meron Mendel, Direktor der Bildungsstätte Anne Frank und fordert angesicht jüngster Vorfälle ein aktivere Auseinandersetzung mit der Geschichte von Nationalsozialismus und Holocaust.
Kaum ein Mensch kennt sie nicht, die Tagebuchaufzeichnungen des jüdischen Mädchens Anne Frank, das sich zwischen 1942 und 1944 zwei Jahre lang mit ihrer Familie und Bekannten versteckte, um der Deportation und Ermordung durch die Nazis zu entgehen. Sowohl das Tagebuch als auch das Anne-Frank-Haus in Amsterdam und die Bildungsstätte Anne Frank in Frankfurt am Main ermöglichen es, dass vor allem Jugendliche verstehen, wohin eine Ideologie der Ungleichwertigkeit führen konnte und wie sie diese Erfahrung in ihre heutige, alltägliche Lebenswelt übertragen können.
*Anne Frank auf einer Pizzaschachtel!?*
Die Auseinandersetzung mit Anne Frank soll eigentlich sensibel machen für Diskriminierung, für menschenverachtende Ideologien und für die zentrale Bedeutung von solidarischem Handeln. Doch immer wieder - und in letzter Zeit gehäuft - wird das Gedenken an sie ins Lächerliche gezogen, verunglimpft oder unreflektiert zu Werbezwecken vereinnahmt. So ermittelt die Staatsanwaltschaft Limburg jetzt zum Bespiel gegen einen Mann der kürzlich eine Fotomontage von Anne Frank auf einem Pizzakarton in der rechtsnationalen Gruppe „Die Patrioten“ auf Facebook gepostet hatte, dazu die Aufschrift „Die Ofenfrische, locker und knusprig zugleich“ sowie „Neu, feurig scharf.“ Zwei Wochen zuvor nutzten Fans des italienischen Fußballclubs Lazio Rom das Konterfei Anne Franks, um ihre Gegner zu verhöhnen. Mit gleicher Absicht produzierte Aufkleber kamen kurz danach auch in der Szene deutscher Fußballfans zum Einsatz, etwa in Leipzig.
Die geplante Benennung eines ICE nach Anne Frank sei zwar ein ganz anderer Fall der gut gemeinten Aneignung von Anne Frank – bescheinige Unternehmen wie der Deutschen Bahn jedoch einen deutlichen Mangel an Geschichtsbewusstsein, kritisiert die Bildungsstätte Anne Frank e.V.. Denn Anne Frank wurde mit der Bahn nach Auschwitz und von dort nach Bergen-Belsen deportiert, wo sie vermutlich im Februar 1945 starb. Der Großteil der Deportationen erfolgte damals mit der Reichsbahn, durch die Vorgängerin der Deutschen Bahn. „Diese PR-Aktion, die sicherlich in bester Absicht entstanden ist, zeigt eine Unfähigkeit zur Selbstreflexion über die eigene Rolle und Mitverantwortung für den systematischen Massenmord an den Juden“, erklärt Dr. Meron Mendel, Direktor der Bildungsstätte Anne Frank – Zentrum für politische Bildung und Beratung Hessen.
*Offener und versteckter Antisemitismus*
Die deutsche Erinnerungskultur 79 Jahre nach der Reichspogromnacht, mit der am 9. November 1938 die systematische Verfolgung der Jüdinnen und Juden einen ersten gewaltvollen Höhepunkt erlebte, stehe vor großen Herausforderungen: „Gedenken allein reicht nicht“, sagt Mendel. Die post-nationalsozialistische Gesellschaft habe sich einerseits bestens eingerichtet in ihrem Status als angeblicher `Erinnerungsweltmeister´. Andererseits würden geschichtsrevisionistische Forderungen nach einem Schlussstrich immer lauter, die mit Politiker_innen wie Björn Höcke nun auch im Bundestag vertreten werden. Dies alles zeige, dass die ritualisierte Gedenkkultur an ihre Grenzen gekommen sei, deshalb fordert Mendel eine aktive Auseinandersetzung mit der Geschichte von Nationalsozialismus und Holocaust.
Auch der Antisemitismus, der sich über Umwege zeige, zum Beispiel in verkürzter Kapitalismuskritik oder in der radikalen Ablehnung des Staates Israel müsse unter die Lupe genommen werden. „Beim Thema Antisemitismus sind alle Teile unserer Gesellschaft ganz besonders gefordert, hinzusehen und zu handeln“ sagt Dr. Mendel, der selbst im Anschluss an die Buchmesse antisemitische Emails erhalten hatte, die er zur Anzeige brachte. Die Bildungsstätte Anne Frank musste im Rahmen ihrer Aktion „mut mutiger mund auf“ gegen rechts auf der Frankfurter Buchmesse erleben, wie gegen Anne Frank sowohl am Stand in Halle 3.1, der sich in unmittelbarer Nähe des neurechten Antaios-Verlags befand, als auch auf der Facebook-Seite der Einrichtung gehetzt wurde.
Expert_innen gehen von einer hohen Dunkelziffer bei antisemitisch motivierten Angriffen, Übergriffen und Gewalt aus, und vielfach wird bemängelt, dass Polizei und Justiz antisemitische Vorfälle – wie zum Beispiel die Schändung von jüdischen Friedhöfen – als unpolitischen Vandalismus einstufen.
*„Anne Frank. Morgen mehr“ – Für eine aktive Auseinandersetzung mit Geschichte*
Die Bildungsstätte Anne Frank entwickelt derzeit das Lernlabor „Anne Frank. Morgen mehr.“, das im Juni 2018 – am 89. Geburtstag von Anne Frank – in ihrer Geburtsstadt Frankfurt/Main eröffnet wird. Es verknüpft auf innovative Weise die Geschichte von Holocaust und Nationalsozialismus mit drängenden Fragen daran, welche Bedeutung Geschichte und Erinnerung eigentlich für das Selbstverständnis einer vielfältigen Gesellschaft heute haben. Historische Formen von Ausgrenzungen werden dabei zum Ausgangspunkt einer Auseinandersetzung mit aktuellen Erscheinungen von Antisemitismus, Rassismus und Diskriminierung. Welche Strategien gegen Ausgrenzungen und Diskriminierung aus Geschichte und Gegenwart finden Kinder und Jugendliche vorbildlich und überzeugend? Was stärkt Menschen dabei, sich für andere einzusetzen und solidarisch zu sein?
„Der gegenwärtige Umgang mit Anne Frank beweist, dass sich die Rekurse auf Geschichte auf einem breiten Spektrum zwischen Erinnerungsweltmeister, Geschichtsrevisionismus, Verherrlichung einerseits und dem Gefühl für historische Verantwortung andererseits bewegen“, sagt Mendel. Die Frage, welche Bedeutung Anne Frank für unsere Gesellschaft hat, muss immer wieder aufs Neue gestellt und verhandelt werden.
Weitere Informationen über die Bildungsstätte Anne Frank
Autorin / Autor: Redaktion/ Pressemitteilung - Stand: 13. November 2017