Je grauer die Gegenwart, desto bunter die Vergangenheit. Nachdem Helena die Scheidung eingereicht hatte, wand ich mich ein paar Wochen in einem Strudel aus Selbstzweifeln und allgemeinem Hass auf das Universum, bevor ich beschloss, etwas zu tun, was vor Jahren schon einmal erfolgreich funktioniert hatte. Mein Buch über neue Trends in der Roboterforschung war so etwas wie ein Bestseller gewesen, hatte mich auf die Landkarte gebracht. Und ja, ich gebe gerne zu, dass ich die vollen Säle auf den Lesereisen und die Talkshowauftritte genossen habe. Und ich gebe auch zu, dass ich in den zehn Jahren, die seitdem vergangen sind, nichts wirklich Bemerkenswertes mehr zustande gebracht habe, wenn man einmal von einer verkorksten Ehe absieht.
Als ich also auf meinem Sofa lag und auf den seit Tagen laufenden Fernseher starrte, schien mir die Idee einer Fortsetzung auf einmal gar nicht mehr so abwegig. Warum denn nicht? Das war doch mein Thema! Außerdem würde es in den letzten Jahren doch wohl einige berichtenswerte Entwicklungen gegeben haben.
Doch schon bald kamen mir erste Hindernisse in den Weg: Die Big Player befanden sich alle im Ausland und mein Budget erlaubte keine aufwendigen Recherchereisen; die hiesigen Firmen bastelten still und heimlich in alten Fabrikhallen am Stadtrand vor sich hin und wollten dabei möglichst wenig gestört werden, erst recht nicht von einem Möchtegernexperten auf der verzweifelten Suche nach längst vergangenem Ruhm. Ich versuchte es mit Bewährtem. Aber Jakob Laubfeld, Koryphäe auf dem Gebiet der Robotik und die wichtigste Quelle für mein erstes Buch, war vor Jahren gestorben. Egal. Auch Tote können noch interessante Infos liefern, hinterlassen verstörende Testamente oder machen merkwürdige Aussagen auf dem Sterbebett. Die Nachlassverwalterin empfahl mir, mich an Laubfelds Frau zu wenden. Seltsam.
Wusste gar nicht, dass er verheiratet war. Die Frau klang am Telefon ziemlich sympathisch, freute sich über mein Interesse und ja, es habe tatsächlich Entwicklungen gegeben, sie selbst setze die Arbeit ihres Mannes seit dessen Tod fort. Ob ich Lust hätte, vorbeizukommen, für ein „kleines Experiment“?
Bisher war ich nur in Laubfelds Firma gewesen, doch die existierte nicht mehr. Sein Privathaus befand sich in einer gepflegten Vorortgegend und erweckte den Anschein von Wohlstand. Ich drückte die Klingel und wartete. Nach einer Minute öffnete Maria Laubfeld die Tür. Als erstes fielen mir ihre Augen auf, ein so tiefes Blau hatte ich noch nie zuvor gesehen. Ihr Alter war schwer einzuschätzen, sie war definitiv jünger als ihr verstorbener Mann, aber wie viel jünger ließ sich nicht sagen. Sie lächelte zur Begrüßung: „Schön, dass Sie es einrichten konnten. In letzter Zeit interessiert sich fast niemand mehr für unsere Arbeit. Dabei haben wir große Fortschritte gemacht.“
„Wir?“, fragte ich.
„Gewohnheit. Ich arbeite allein. Aber ich sehe es als unsere gemeinsame Arbeit. Wollen Sie was trinken?“
Sie führte mich in die „Werkstatt“, wie sie es nannte und ich schaute mich um, während sie uns beiden einen Kaffee machte. Werkstatt war der falsche Begriff, der Raum erinnerte mit seinen Glaswänden, Stahltischen und LED-Lampen eher an ein Hightech-Labor.
„Jakobs Traum war es immer, eine Künstliche Intelligenz zu entwickeln, die sich in keiner Weise mehr von einem Menschen unterscheiden lässt. Kurz vor seinem Tod hat er gesagt, er glaube, ich werde diesen Traum wahr werden lassen.“
Sie schaute mich einen Augenblick an. „Die letzten Jahre habe ich an etwas gearbeitet. Und jetzt, wo Sie hier sind, kann ich sie endlich testen.“
„Sie?“
Maria stand auf und bedeutete mir, zu warten.
Sie verschwand durch eine Tür. Ich blieb sitzen und überlegte. Wie konnte es sein, dass Laubfeld nie von seiner Frau erzählt hatte, wo die Zusammenarbeit doch offensichtlich so eng gewesen war? Wollte er den Ruhm für sich haben? Er schien mir nie der Typ zu sein, der vor allem am Ruhm interessiert war. Bevor ich weiter über diese Ungereimtheiten nachdenken konnte, öffnete sich die Tür und Maria kam zurück, gefolgt von einer jungen, gutaussehenden Frau.
Die Frau kam auf mich zu. „Darf ich mich setzen?“, fragte sie. Ich nickte und sie setzte sich. Jemand mit weniger Expertise hätte sie wohl tatsächlich für einen echten Menschen gehalten, doch mich beschlich sofort ein leichtes Unwohlsein. Während der Recherchen zu meinem ersten Buch hatte ich gemerkt, über welch fein ausgeprägte Gespür für menschliche Verhaltensweisen wir verfügen und gelernt, darauf zu vertrauen. Bei genauerem Hinsehen fiel es mir auf: Ihre Handbewegungen waren ein wenig zu glatt, zu fließend, ihr Lächeln ein wenig zu perfekt. Und ihr Blinzeln: Sie blinzelte in einem bestimmten Rhythmus, der sich alle dreißig Sekunden wiederholte.
Ansonsten aber war sie ziemlich perfekt. Sie war die mit Abstand am weitesten entwickelte Künstliche Intelligenz, die ich je gesehen hatte und allem, was mir Laubfeld damals gezeigt hatte, um Meilen voraus.
„Ich heiße Annika. Du bist Reporter, oder?“ Sie sprach mit einer leisen, aber dennoch klaren Stimme. Keine merkwürdigen Pausen, keine seltsamen Betonungen.
„So was in der Art. Freut mich, dich kennenzulernen.“
„Und was bringt dich hierher?“
Unwillkürlich musste ich lächeln. „Bisher wusste ich es nicht, aber jetzt glaube ich, du bringst mich hierher.“
Fast eine Stunde unterhielten wir uns. Maria stand die ganze Zeit in der Ecke und beobachtete uns aufmerksam. Sie machte sich keine Notizen, aber trotzdem hatte ich das Gefühl, dass sie jedes Detail des Gesprächs genau mitbekam.
„Und?“, fragte sie mich, nachdem sie Annika wieder in ihren Raum zurückgebracht hatte, „was sagen Sie?“
„Ich bin sehr beeindruckt. Mimik, Gestik, Satzbau, Intonation. Sie haben fantastische Arbeit geleistet.“
Sie schaute mich an. Erneut nahmen mich ihre tiefblauen Augen in ihren Bann. „Aber?“
Ich zögerte. „Wenn ich ganz ehrlich sein soll: Sie ist nicht menschlich. Sie ist nah dran, vielleicht so nah, wie man überhaupt nur kommen kann. Aber im Gespräch kommt keine echte Chemie auf. Dafür ist sie zu glatt. Selbst ihre Fehler wirken, als wären sie absichtlich einprogrammiert. Was sie wahrscheinlich auch sind.“
Maria schien mir meine ehrlichen Worte nicht übel zu nehmen. „Danke für diese Einschätzung. Ich freue mich schon darauf, die gewonnenen Erkenntnisse in das nächste Modell einzubauen.“
„Werde ich dann wieder als menschliche Testperson eingeladen?“
„Wenn Sie möchten. Es hat mich sehr gefreut. Schicken Sie mir ein Exemplar Ihres Buches, sobald es fertig ist.“
Das tat ich. Und nicht nur das. Ich lud sie auch zum Essen ein, unter der Angabe, weiter mit ihr über Künstliche Intelligenz sprechen zu wollen. Nachdem ich ihre Arbeit gesehen hatte, war mir klar, dass es sich bei ihr um eine Frau mit beeindruckenden Fähigkeiten handelte. Wir gingen in ein kleines, griechisches Restaurant, nicht schlecht, aber auch nicht so edel, dass man sich unwohl fühlte. Im Vorfeld hatte ich ein wenig über Maria recherchiert und zu meinem Erstaunen absolut gar nichts gefunden. Schon beeindruckend, dass es jemandem in unserer Zeit gelingt, keinerlei digitale Spuren zu hinterlassen.
Sie trug ein einfaches, dunkelblaues Kleid, es passte perfekt zu ihren Augen. Ich stellte ihr Fragen zu ihrer Arbeit und sie erzählte mir von ihren Forschungen, von den Schwierigkeiten, menschliches Denken künstlich nachzubilden. „Als würde man versuchen, einen Ameisenhaufen zu bauen, bei dem man jede Aktion in jedem Moment vorausplanen muss.“
Sie befragte mich zu meinem Leben. Überraschenderweise schien sie für meine zwischenmenschlichen Beziehungen mehr Interesse zu zeigen als für meine Arbeit. Also erzählte ich ihr von Helena. Auch wenn die Scheidung nun schon mehr als ein Jahr zurücklag, war ich meine Selbstzweifel noch immer nicht losgeworden.
Wahrscheinlich lag es an dem ausführlichen Gespräch mit Helena, mit dem sie unsere Ehe beendet hatte. Wobei es sich weniger um ein Gespräch und eher um einen Monolog gehandelt hatte. Sie warf mir darin so ziemlich alles vor, was man jemandem vorwerfen kann, von Egoismus bis hin zu Narzissmus, sie sagte, ich würde sie einengen und ihr keinen Freiraum lassen, ich würde sie nur brauchen, damit sie meine eigene, eingebildete Genialität spiegelte. Das Schlimmste an ihren Worten war, wie sehr sie zutrafen. Tatsächlich genoss ich vor allem die Momente, in denen ich ihr meine Texte vorlas und sie mir bestätigte, wie großartig ich war. Wie großartig sie war, wurde mir erst wirklich bewusst, nachdem sie mein Leben verlassen hatte.
Maria reagierte einfühlsam. Sie sagte, es tue ihr leid. Sie wisse, wie schwierig es sei, wenn eine Person, die einem viel bedeute, auf einmal nicht mehr da wäre. Ich fragte nach Jakob.
„Er war alles für mich“, sagte sie. „Ich schulde ihm unendlich viel. Das Einzige, was ich tun kann, ist, sein Lebenswerk zu vollenden.“
„Ich bin mir sicher, dass du es schaffen wirst,“ antwortete ich.
Ein paar Wochen später erschien mein Buch und auch wenn ich nicht angeben will, muss ich doch sagen, dass es sich nicht schlecht verkaufte. Ich ging auch wieder auf Lesereise, man fragte mich für Talkshows an. Doch der Hauptgrund, aus dem ich das Buch als Erfolg betrachtete, war meine Freundschaft mit Marie, die aus meinen Recherchen resultierte. Wir fingen an, uns regelmäßig zu treffen, erst monatlich, dann wöchentlich, schließlich jeden zweiten Tag.
Meistens gingen wir ins Café oder in ein Restaurant, Maria bestellte immer entweder einen Eiskaffee (in den Cafés), oder eine Suppe (in den Restaurants). Dann redeten wir stundenlang, in der Regel über Künstliche Intelligenz. Ich war der Ansicht, das Vorhaben, menschliches Bewusstsein nachzubauen, führe unvermeidlich zum Scheitern, da die Komplexität menschlichen Denkens, das Zusammenwirken unzähliger Faktoren, die eine Person zu der machten, die sie war, in Verbindung mit der Fehlerhaftigkeit und Unvollkommenheit jedes einzelnen, jede vorstellbare Rechenkapazität sprengen müsste. Maria hielt dagegen, sie glaubte, es wäre nur noch eine Frage der Zeit, bis jemand eine Maschine entwickeln würde, die sich in ihrem Verhalten nicht mehr von einem Menschen unterscheiden ließe.
„Außerdem macht es so viel Spaß, menschliches Sein zu ergründen“, sagte sie. „Mit allen Abgründen, auf die man dabei stößt.“
Doch wir redeten nicht nur darüber. Wir unterhielten uns auch über private Dinge, ich erzählte ihr von meiner Kindheit, meinem Studium und meiner Ehe, sie sprach über ihre Beziehung mit Jakob. Stundenlang schwärmte sie von Büchern oder Filmen, die sie gerade gelesen oder gesehen hatte, ihr fielen dabei Details und Querverbindungen auf, auf die ich niemals gekommen wäre.
Je häufiger wir uns trafen, desto mehr begann ich, sie mit Helena zu vergleichen. Und je mehr Zeit verging, desto dunkler erschien mir meine Exfrau und desto heller strahlte Maria. War Helena oft kühl und abweisend, hatte Stimmungsschwankungen und liebte es, sich über Kleinigkeiten zu beschweren, war Maria im Gegensatz dazu stets neugierig und aufgeschlossen, ohne dabei naiv oder oberflächlich zu sein.
Ich begann, mich in ihre kleinen Eigenarten zu verlieben, darin, wie sie sich die Nasenspitze mechanisch mit Daumen und Zeigefinger rieb, wenn sie über etwas nachdachte, wie sie scheinbar nach einem inneren Wecker alle neunzig Minuten auf Toilette ging und wie ihre blauen Augen kurz flackerten, wenn sie eine für sie interessante oder überraschende Information verarbeitete.
Manchmal gingen wir zu ihr nach Hause, wo sie ihre Fortschritte an Annika zeigte. Tatsächlich schritt die Entwicklung gut voran, Annikas Bewegungen wurden natürlicher, ihre Sprache flüssiger, ihr Auftreten und ihre Ausstrahlung weniger maschinell. Und doch überzeugten mich die Gespräche, die ich mit ihr führte – und die sich Maria mit großem Interesse anhörte und die sie danach fast wortgenau widergeben konnte, auch wenn sie sich nie Notizen machte – nur noch mehr von meiner These, denn Annika war weiterhin meilenweit von jeglichem Menschsein entfernt. Nicht nur das: Durch die neuesten Verbesserungen befand sie sich jetzt mitten im uncanny valley und mir lief jedes Mal, wenn ich mich mit ihr unterhielt, ein Schauer über den Rücken. Als ich Maria davon erzählte, lächelte sie bloß: „Um auf den Berggipfel zu kommen, muss man nun Mal vorher das Tal durchschreiten.“
Unsere Freundschaft wäre wohl noch ewig so weitergegangen und im Nachhinein kann ich auch nicht mehr genau sagen, was es letztendlich war, vielleicht das einzelne graue Haar, welches ich eines Morgens im Spiegel entdeckte, vielleicht die kurze und für beide Seiten ziemlich unangenehme Begegnung mit Helena (und ihrem neuen Freund) in der Stadt, vielleicht auch einfach nur das Bedürfnis, endlich mal einem Menschen und dann auch noch einem so besonderen wieder auf andere Weise nahe zu sein, was immer es war, ich entschied mich eines Tages, unsere Freundschaft auf eine neue Stufe zu heben.
Bereits als sie ins Restaurant kam und mich in einem Anzug dort sitzen sah, bemerkte sie, dass die Dinge dieses Mal anders waren. Doch statt eines Kommentars lächelte sie bloß leicht. Wir unterhielten uns lang und angeregt über unterschiedliche Dinge, über meine Pläne für ein neues Buch, über ihre Idee, Annika auseinanderzuschrauben und aus den Teilen ein komplett neues Modell zu bauen sowie über die Frage, ob große, konzernfinanzierte Entwicklerteams oder einzelne Forscher die größeren Fortschritte erzielten, eines der wenigen Themen, bei denen wir uns uneins waren.
Nachdem wir bezahlt hatten und nach draußen gegangen waren, um uns zu verabschieden, nahm ich all meinen Mut zusammen und fühlte mich fast wieder wie ein schüchterner Siebzehnjähriger, als ich sie fragte, ob sie noch Lust hätte, mit zu mir zu kommen. Ihre Augen flackerten kurz, dann nickte sie.
Sie war noch nie zuvor bei mir gewesen, ich hatte meine Wohnung extra aufgeräumt. Neugierig schaute sie sich um. Sie lehnte den Drink genauso ab wie das Glas Wasser, dass ich ihr alternativ anbot, doch als ich etwas Musik auflegte, war sie gerne bereit, mit mir zu tanzen.
Wir hielten uns im Arm und ich beugte mich zur ihr herunter, um sie zu küssen. Ihre Lippen waren kühl und weich, sie erwiderte meinen Kuss. Küssend drehten wir uns im Kreis, küssend, gingen wir ins Schlafzimmer, wo ich mich auszog. Als ich ihr Kleid öffnen wollte, wich sie einen Schritt zurück.
„Ich glaube nicht, dass dir gefallen wird, was du siehst“, sagte sie.
„Ich bin mir sicher, dass es mir gefallen wird“, erwiderte ich.
Sie öffnete ihr Kleid am Rücken und es fiel in einer fließenden Bewegung zu Boden. Darunter kam ihr Körper zum Vorschein: Ein Metallskelett, umwickelt von Kupferdrähten, das ganze Gebilde in einen Mantel aus Plexiglas gehüllt. Ich konnte Schräubchen und Platinen entdecken, blinkende Lämpchen und Sicherungen. Auf einmal verstand ich alles.
Ihr Gesicht sah so aus wie immer, ihre tiefblauen Augen schauten mich fragend an.
„Und?“, fragte sie.
Nackt wie ich war ging ich zu ihr und nahm sie in den Arm: „Jakob hatte recht, als er gesagt hat, du würdest sein Lebenswerk vollenden.“
Sie lächelte.
„Was ich nie verstanden habe“, fuhr ich fort, „warum die künstliche Erschaffung menschlichen Bewusstseins als Heiliger Gral der Forschung gilt. Ist das Menschliche wirklich so toll? Du bist so viel mehr als ein Mensch und gerade deshalb so fantastisch.“
„Du bist auch fantastisch“, sagte sie. „Obwohl du nur ein Mensch bist.“
Wir lachten beide. Dann legten wir uns ins Bett. Durch meinen Körper floss Blut und durch ihren elektrischer Strom und so hielten wir uns an den Händen und schliefen nebeneinander ein.