Milchiges Mondlicht hüllte die mehrstöckige Villa in eine beinah friedvolle Atmosphäre. Wäre da nicht dieses Knistern in der Luft, diese leichte Ahnung, dass hier gleich irgendetwas passieren würde.
Naima kontrollierte ein letztes Mal die Schnürsenkel ihrer schwarzen Halbstiefel, bevor sie mit Daumen und Zeigefinger ihr linkes Ohrläppchen umfasste und den kleinen Chip darin kurz zusammendrückte.
„Hallo Naima“, ertönte die Stimme in ihrem Kopf, an die sie sich so sehr gewöhnt hatte, dass sie inzwischen fast so zu ihr gehörte, wie ihre eigene. Fast.
„Hallo Z“, erwiderte sie die Begrüßung aus einem Automatismus heraus.
Wenn Z Mundwinkel hätte, so wären sie nach oben gewandert, so aber spürte Naima die gewohnte Freisetzung von Dopamin, die von Zs Chip ausging, wann immer ein echter Mensch ihr ein Lächeln oder körperliche Nähe zu Teil werden lassen hätte. Damit konnte die KI natürlich nicht dienen. Und so erzeugte sie einfach die Empfindungen, die dieser zwischenmenschliche Kontakt in Naima geweckt hätte- künstlich.
Naima schloss kurz die Augen, um dieses Gefühl noch ein bisschen festzuhalten. Aber das Glücksgefühl flaute schnell wieder ab. Naima straffte die Schultern. Sie hatte einen Job zu erledigen.
„Ich hab mich um die Kameras gekümmert“, teilte ihr Z mit, „Und um die Alarmanlage oder das Flutlicht, brauchst du dir auch keine Gedanken zu machen.“
„Danke, Z.“ Schon wieder spürte Naima wie Z Dopamin freisetzte, aber diesmal schenkte sie dem keine Aufmerksamkeit.
Mit schnellen, fast katzenartigen Bewegungen eilte sie auf das Haus zu, umfasste die Regenrinne mit beiden Händen und begann, daran hinaufzuklettern. Jede einzelne Bewegung zeugte von der Häufigkeit, der Routine, mit der sie das hier tat. Wenn sie etwas konnte, dann das. Mit einer letzten kraftvollen Bewegung zog sie sich vollends auf den Balkon, welchen Z bei ihrer Analyse als die beste Gelegenheit, um hineinzugelangen, bezeichnet hatte. Tatsächlich- das Fenster stand auf Kipp. Geschickt griff sie durch den kleinen Schlitz und verdrehte ihr Handgelenk leicht, um den Griff zu drehen. Es kostete sie nur wenige Sekunden, bevor der Riegel mit einen leisen Klacken nachgab und das Fenster aufsprang. Erst ein Fuß, dann der zweite stiegen durch das Fenster, wanderten durch das Zimmer, schließlich durchs Treppenhaus, um dann im dritten Stock vor dem großen Safe inne zu halten.
Hilfesuchend wartete Naima auf Zs Stimme, damit sie ihr sagte, wie sie das Schloss öffnen konnte und natürlich wurde sie nicht enttäuscht.
Routiniert folgte die junge Einbrecherin den Anweisungen ihrer KI und verließ das Haus nur wenige Minuten später durch dasselbe Fenster, durch das sie auch hereingekommen war- die Taschen vollgestopft mit technischen Geräten, Schmuck und Bargeld.
Naima glaubte sich beinah selbst, das sie glücklich war, glücklich über den gelungenen Einbruch, über die vielen gelungenen Einbrüche. Aber tief in ihr drinnen, war dieses Loch. Dieses Loch, das Z niemals zu füllen vermochte, ganz egal, was sie auch tat, dieses Loch, was ganz genauso zu Naima gehörte, wie ihre schwarzen Haare, ihre Halbstiefel oder der kleine Leberfleck am Kinn.
Sie vermisste ihn. Jeden Tag beim Aufstehen, beim Frühstück, beim Abendessen. Manchmal träumte sie auch von ihm, von ihrem großen Bruder. Sie war jetzt so alt, wie er gewesen war. Zweiundzwanzig- kein Alter zum Sterben. Und doch war es passiert. Niemand hatte es kommen sehen.
Er hatte schon sehr jung festgestellt, dass er ein Talent für Technik hatte. Er verstand jeden noch so komplizierten Algorithmus, liebte es „herumzuspielen“ und war bald, schon im Alter von achtzehn Jahren, bei einer berühmten Softwarefirma eingestellt worden.
Neben ihm war sich Naima immer so unwissend vorgekommen, das woran er arbeitete, war für sie immer irgendein unbestimmter Nebel geblieben. Aber er hatte ihr nie das Gefühl gegeben, klein zu sein. Er war einfach Zack gewesen, hatte ihr Haar verstrubbelt, Essen mit ihr gekocht, mit ihr gespielt, auch als sie beide dafür längst zu alt waren. Der Unfall hatte sie ganz unerwartet auseinander gerissen. Tagelang hatte sie geweint, geschrien, hatte mit niemandem reden wollen. Bis zu dem Tag an dem sie den kleinen Chip fand, Zacks letztes Projekt. Unwillkürlich wanderte Naimas Hand zu ihrem Ohrläppchen.
Dieser Chip hatte sie verändert. Sie hatte sich selbst zu dem Menschen gemacht, der sie immer hatte sein wollen. Was sie wollte, das erreichte sie auch. Was sie lernen wollte, damit beauftragte sie Z. Aber doch fehlte etwas. Etwas Essentielles. Etwas, das sie nicht benennen konnte.
Deshalb hetzte sie lieber von einem Nervenkitzel zum nächsten, stahl, nur um das Geld zu spenden an Krankenhäuser, an medizinische Forschungsinstitute. Vielleicht hätte man Zack ja damals retten können, mit ein bisschen mehr Forschungserkenntnissen, vielleicht könnte man es jetzt.
Naima sah auf Zacks Grab, zu dem sie ihre Schritte unwillkürlich geführt hatten und versuchte die Tränen wegzublinzeln, aber es ging nicht. Sie weinte um ihren Bruder und egal wieviel Dopamin Z freisetzte: Besser ging es ihr dadurch nicht. Es war, als wäre ein Damm gebrochen. Sie weinte, schluchzte hemmungslos.
Und plötzlich war da jemand hinter ihr, zog sie an sich, sie vergrub ihr Gesicht in einem vollkommen fremden Pullover, „Ich vermisse ihn auch“, murmelte eine fremde Stimme, fremde Arme schlangen sich um sie. Als dann die Tränen langsam versiegten und ihr Atem wieder ruhiger wurde, da wusste Naima, was ihr die ganze Zeit gefehlt hatte.
Und Naima schlang die Arme um den warmen Körper, an den sie gedrückt wurde und für einige Sekunden war alles ok.