Didrik ist stolzer Familienvater und genießt mit seiner Frau und seinen drei Kindern gerade den schwedischen Sommer im Ferienhaus seiner Schwiegermutter. Zwar gab es zwischen ihm und seiner Frau in letzter Zeit öfter mal Stress, doch seit der Geburt seiner jüngsten Tochter Becka vor einigen Monaten bemühen sich beide, die Beziehung zu kitten. So kommt es, dass Didriks persönliche Freuden und Probleme alle anderen Krisen überlagern: Die sich ausbreitenden Waldbrände, die Wasserknappheit und auch die Ausschreitungen in den Großstädten hat er weitgehend ausgeblendet.
Doch irgendwann kommt der Tag, an dem die Hitze und der Rauch in der Luft auch in ihrem hübschen Haus am See nicht mehr zu ignorieren sind, und so packt die Familie alles Wichtige in ihr Auto um aufzubrechen – nur um festzustellen, dass der Wagen nicht anspringt. Von einer Minute auf die andere verwandelt sich ihre vorgezogene Abreise in eine Flucht zu Fuß, ohne passendes Schuhwerk, ein konkretes Ziel oder Hilfe in Aussicht.
Auch an vielen anderen Stellen im Land erleben die Menschen diesen heißesten Sommer seit Beginn der Aufzeichnungen auf ihre eigene Weise: Da ist die Influencerin Melissa, die ihren Followern zuruft: „Schämt euch nicht, ein Mensch zu sein!“, und jegliche CO²-Emmissionen für vertretbar hält – solange sie für den Genuss passieren. Sie ist es auch, mit der Didrik eine Affäre hatte. Die luxuriöse Penthouse-Wohnung, in der sie den Sommer verbringt, gehört einem gealterten Tennis-Star. Dieser ist gerade segeln mit seinem Sohn André.
André ist in einer Welt aufgewachsen, in der das Fleisch-Essen weiterhin als Status-Symbol gilt, und in der ein Zweitwohnsitz in den Schärengärten ganz selbstverständlich ist. Gleichzeitig verachtet er seinen wohlhabenden Vater, und sympathisiert mit jenen, die in den Innenstädten protestieren, randalieren und tiefgreifende Veränderungen fordern.
Zuletzt ist da noch Vilja: Sie ist Didriks Tochter, 14 Jahre alt, und versteht die Flucht ihrer Familie beinahe als großes Abenteuer. Ihr ist klar, dass schreckliche Dinge passieren, Menschen ihr Zuhause verlieren, manche sogar verletzt oder getötet werden. Und doch gibt ihr der Ausnahmezustand zum ersten Mal die Möglichkeit, Verantwortung zu übernehmen, sich selbst zu beweisen und eigene Wege zu gehen.
Jens Liljestrand erzählt vom heißesten europäischen Sommer seit Beginn der Aufzeichnungen, und die deutsche Übersetzung erscheint ausgerechnet im Sommer 2022 – was für ein Zufall, will man meinen. Und doch ist der nächste Gedanke direkt: Es gibt überhaupt keinen unpassenden Zeitpunkt für eine solche Veröffentlichung mehr, da die Temperaturen im Mittel immer weiter steigen werden, auch wenn es wohl noch eine Weile dauert, bis wir dies verinnerlicht haben.
Nichtsdestotrotz machen es die gegenwärtigen Temperaturen und die anhaltende Hitze natürlich einfacher, die geschilderten Strapazen und Gedanken der Protagonisten nachzuvollziehen. Doch Liljestrand trifft nicht nur den Nerv der Zeit, sondern schreibt auch auf eine sehr einnehmende Art und Weise. Vor allem die Geschichte um Didrik und seine Familie, die das erste und letzte Viertel des Buches einnimmt, hat mich gefesselt. Sie zeigt auf, wie schnell wir von unserer sicheren und vertrauten Umgebung in eine ausweglose Situation geraten, in der wir auf Schutz und Hilfe von Dritten angewiesen sind. Wie schnell Infrastrukturen versagen oder Ressourcen aufgebraucht sind, und wie verletzlich das System ist, das wir als Zivilisation kennen.
Liljestrands Erzählung sorgt für Betroffenheit, gerade weil sie verschiedene Perspektiven aufzeigt und uns einen Spiegel vorhält – in mindestens einer der vier Lebenswelten kann sich definitiv jeder von uns wiederfinden. Der besondere Sog, der vom ersten Viertel des Buches ausgeht, ist gleichzeitig auch mein einziger Kritikpunkt: Die vier Geschichten, die in großen Teilen unabhängig voneinander sind und sich nicht gegenseitig beeinflussen, führen zu einem atypischen Spannungsbogen, der vier separate Verläufe beschreibt. Mir persönlich hat der erste am besten gefallen, wodurch meine Erwartungen für den weiteren Verlauf der Geschichte hoch waren, und leider nicht ganz erfüllt wurden. Für mich wäre eine andere Entwicklung hier harmonischer gewesen, aber das ist sicher Geschmackssache. Insgesamt ist „Der Anfang von Morgen“ wirklich ein sehr lesenswertes Buch, dem es gelingt, eine konkrete Warnung auszusprechen, ohne eine Dystopie zu erfinden, mit der die meisten Leserinnen und Leser sich nicht identifizieren können.
*Erschienen bei S. FISCHER*
Autorin / Autor: lacrima - Stand: 22. August 2022