"Na, junge Dame, gehen sie zur Schule?" Überrascht blicke ich auf. Vor mir steht ein alter Mann, dicker Bauch, dünne graue Haare, Brille. Er schaut mich erwartungsvoll an, also nicke ich und zeige mit meiner Hand vage in Richtung der Schule, die ich besuche. "Auf das Gymnasium," ergänze ich. "Ah, auf das Gymnasium," wiederholt der alte Mann. Dann stellt er eine neue Frage: "Haben sie schon gut gefrühstückt heute?" Wieder nicke ich als Antwort und freudig beginnt mein Gesprächspartner zu erzählen: "Ich auch, ich habe auch schon gefrühstückt. Zwei Brötchen mit Honig," sagt er und hebt dabei zwei Finger, um das Gesagte zu verdeutlichen. "Zwei Stück." Ich nicke ihm zu und schaue mich gleichzeitig an der Bushaltestelle, an der ich sitze, nach irgendwelchen bekannten Gesichtern um, zu denen ich mich flüchten könnte. Dumm nur, dass außer mir niemand donnerstags nach der 2. Schulstunde schon wieder aus hat und nach Hause fährt. Der alte Mann bemerkt mein großes Interesse für die Anderen an der Haltestelle und mein Desinteresse für seine Geschichten nicht und fährt fort, aus seinem Leben zu erzählen. Nach fünf Minuten weiß ich, dass er im Altersheim lebt, Pflegestufe 0 ist - "die höchste Pflegestufe ist Pflegestufe 3, die werden über Schläuche ernährt" -, dass er noch nie Pflegestufe 3 war, außer einmal, da war seine Mutter gestorben an seinem 66. Geburtstag und das hat ihn so runter gezogen, dass er auch Pflegestufe 3 war; ich weiß, dass seine Mutter Agathe Pfeifer-Schmitt hieß - "Schmitt mit tt" - und dass er 1937 geboren wurde - "in München aber, nicht hier". Ich sitze auf der kalten Bank, nicke und lächle und tue so, als höre ich zu, während ich in Wahrheit nur auf den Bus warte und mich verfluche, weil ich meine Kopfhörer für mein Handy nicht mitgenommen habe, um so zu tun, als höre ich ihn nicht. Hoffentlich geht das jetzt nicht jede Woche so!
Als ich aber eine Woche später wieder an der Haltestelle auf den Bus warte, kommt der alte Mann erneut auf mich zu. Und schon wieder habe ich keine Kopfhörer dabei und bin einem Gespräch schutzlos ausgeliefert. Dieses mal redet der alte Mann sogar Englisch, durch die vorbeirauschenden Autos verstehe ich aber nur ein: "You look like an angel." Ich grinse dem Mann schief zu, der sogleich eine Frage stellt: "Na, junge Dame, gehen sie zur Schule?" Ich sage ihm, wie letzte Woche schon, dass ich auf das Gymnasium gehe, "da oben." Und auf die Frage, ob ich gut gefrühstückt habe, nicke ich lächelnd und hoffe, dass er nicht wieder mit Pflegestufe 0 und Pflegestufe 3 anfängt. Aber stattdessen erzählt er mir von seinen 4 Zähnen, die ihm noch geblieben sind, so sei das eben im Alter. Und dass er immer Ärger habe mit dem Arzt, wegen seines Blutdrucks. Und wieder nicke ich und lächle und tue so, als höre ich zu, während ich in Wahrheit nur auf den Bus warte.
Als der dann kommt, fragt der alte Mann mich, ob er neben mir sitzen dürfe im Bus. Ich druckse ein bisschen herum: "Hm, naja, also…" Dann steige ich schnell ein und setze mich auf den Einzelplatz hinter dem Busfahrer. Ich kann dem Mann ja schlecht sagen, dass ich nicht neben ihm sitzen will, aber mich noch mal 15 Minuten mit ihm unterhalten will ich auch nicht. Und so ist es ab da jeden Donnerstag. Der alte Mann - in Gedanken nenne ich ihn nur noch "Bushaltestellenopa" - kommt zu mir, erzählt mir aus seinem Leben bis der Bus kommt, dann setze ich mich auf einen Einzelplatz, und die Unterhaltung ist beendet.
Die Kopfhörer nehme ich nicht mit, denn eigentlich ist der alte Mann ja schon nett, und was er erzählt ist auch ziemlich interessant. Nur im Bus neben ihm zu sitzen, das bringe ich nicht über mich. Dort fängt er nämlich an zu singen, das höre ich jede Woche und sitze dann lachend auf meinem Platz. Solange er jemand anderes ansingt, ist das wirklich kein Problem, aber ich will ihn auch nicht so direkt neben mir haben, da bin ich generell ein bisschen mäkelig. Dementsprechend fühle ich mich auf meinem Einzelsitz sehr wohl, mit dem Gesang von dem alten Mann im Hintergrund und dem Wissen, ihm mit unserem kleinen Gespräch schon eine Freude getan zu haben.
Irgendwann, über ein halbes Jahr nach unserer ersten Begegnung, ist der alte Mann nicht an der Bushaltestelle. Ich mache mir Sorgen. Ob er wohl krank ist, oder schlimmer noch, vielleicht sogar tot? Immerhin war er schon 76 Jahre alt, in dem Alter sterben Menschen durchaus. Ich lese die Todesanzeigen in der Zeitung und warte jeden Donnerstag auf den alten Mann. Ich merke, wie sehr ich unser Gespräch mit der Zeit doch vermisst habe, mit den Anfangssätzen: "Na, junge Dame, gehen sie zur Schule?" und: "Haben sie schon gut gefrühstückt heute?", die mich immer an seinem Gedächtnis zweifeln ließen; ob er wohl wusste, dass wir uns die jeweils vorherige Woche auch schon unterhalten hatten? Dann immer seine englischen Einwürfe, Englisch hatte er während der Besatzungszeit durch die Amerikaner gelernt. Seine Geschichten von seiner Mutter und seinen 8 Geschwistern, 6 Brüdern und 2 Schwestern, alle älter als er. Geschichten von seiner Frau, die vor vielen Jahren an Brustkrebs gestorben war, von seinen 2 Söhnen und 3 Enkeln, die zu weit weg wohnten, als dass er sie regelmäßig zu Gesicht bekam. Ja, der alte Mann aus dem Altersheim, der mich zu Beginn so genervt hat, fehlt mir, fehlt mir so sehr, dass ich mich im Bus nicht mehr auf den Einzelsitz setze, sondern immer Platz für ihn habe neben mir.
Fünf Wochen nach seinem Verschwinden entdecke ich dann seine Todesanzeige.
"Wir trauern um Herrn Bernhardt Schmitt,
der nach langer Krankheit verstorben ist.
geboren 7. 3. 1937; gestorben 23. 4. 2013"
Das ist er, das ist mein alter Mann, mein Bushaltestellenopa. Er wird nie mehr zur Bushaltestelle kommen und mit mir reden. Er wird nie mehr fragen, ob ich zur Schule gehe und gut gefrühstückt habe. Er wird nie mehr im Bus Gedichte vor sich her singen. Ohne ihn ist es jetzt still und einsam an der Haltestelle donnerstags morgens um halb 10. Darum nehme ich meine Kopfhörer mit, stöpsle sie in mein Handy und höre laut Musik. So laut, dass ich die alte Dame, die mich fragt, ob ich zur Schule gehe, fast nicht höre.