Der Glücksfinder
Autoren: Edward van de Vendel und Anoush Elman
Stell dir vor, dein Heimatland kann nicht länger deine Heimat sein. Weil du frei denkst. Weil du dich nicht anpassen willst. Weil die Machthaber sich gegen dich gestellt haben. Du musst fliehen. Du vertraust dein Leben wildfremden Menschen an. Sie sollen dich über die Grenze schmuggeln.
Hamayun ist zehn Jahre alt, als seine Familie aus Afghanistan flieht. Die Taliban regieren das Land strikt nach den Gesetzen der Scharia. Hamayuns Vater hat früher Mädchen unterrichtet. Damit gilt er in den Augen der Taliban als Feind des Regimes. Bei einer Razzia findet die Taliban-Polizei Videokassetten und einen Fernseher bei Hamayuns Familie. Um einer Gefängnisstrafe oder gar einer Hinrichtung zu entgehen, flieht man noch in der selben Nacht. Ein halbes Jahr lang vertraut die Familie ihr Leben den Menschenschleppern an – Knochenträgern, wie Hamayun sie nennt. Dann haben sie es geschafft, sie sind in den Niederlanden angekommen. Obwohl sie freundlich aufgenommen werden, steht kein Happy-End in Aussicht. Die Asylanträge der Familie werden immer wieder abgewiesen. Plötzlich sind sie sogar illegal im Land.
„Der Glücksfinder“ ist eine Geschichte über Freundschaft, Verlust und Hoffnung. Schon mit zehn Jahren muss Hamayun erfahren, wie instabil die Welt sein kann. Immer wieder wird auf dramatische Art und Weise deutlich, wie nah Freude und Verlust beieinander liegen können. Der jüngste Bruder wird in Afghanistan zurückgelassen. Auf der Flucht gibt es immer wieder Personen, die Hamayun ans Herz wachsen. In den Zwischenlagern entstehen ungleiche Freundschaften – zwischen alten Frauen und kleinen Jungen, Muskelpaketen und Denkern. Doch schon ein Tag später kann man getrennt werden und sieht sich nie mehr wieder. Denn die Flüchtlinge sind „atmende Pakete“, wie einer der Flüchtenden im Buch feststellt, die den kriminellen Schleppern zu Gewinn verhelfen.
In den Niederlanden gelangt Hamayuns Familie in ein Heim für Asylbewerber. Hier geht es ihnen gut, sie finden sogar den älteren Bruder wieder. Hamayun kann zur Schule gehen, schließt Freundschaften, verliebt sich zum ersten Mal. Schließlich fordert ihn seine Niederländisch-Lehrerin auf, ein Theaterstück auf Grundlage seiner Flucht zu schreiben. Kurz vor der Aufführung wird Hamayuns Familie verraten, der Vater verhaftet. Die Abschiebung nach Afghanistan steht kurz bevor.
Sprachlich überzeugt das Buch ebenfalls. Hamayun berichtet als Ich-Erzähler über Afghanistan und die Niederlande. Er tut das in einer Art Rückblick. Das Buch beginnt dort, wo er aufgefordert wird, ein Theaterstück über seine Flucht zu schreiben. Rückblickend erfährt der Leser von der Flucht. Das bedeutet auch, dass man nicht alle Ereignisse sofort versteht. Schließlich ist Hamayun zehn Jahre alt, als er flieht und wird nur in wenige Dinge eingeweiht. Doch gerade das macht das Buch so authentisch. Der Leser kann die Unsicherheiten im Leben der Hauptperson so viel besser nachvollziehen. Am Ende wird der Anfang wieder aufgegriffen. Hamayuns Familie wird kurz vor Aufführung des Stückes verraten. Von nun an ist es unklar, ob sie überhaupt in den Niederlanden bleiben kann. Trotz dieser Höhen und Tiefen bezeichnet sich Hamyun selbst als Glücksfinder.
Beeindruckend, verstörend, bewegend; so kann man das Buch am besten beschreiben. Ich habe lange kein so gutes Buch mehr gelesen. „Der Glücksfinder“ ist keine fiktive Geschichte. Anoush Elman, einer der beiden Autoren, erzählt von seiner eigenen Flucht. Einige Personen wurden dazu erfunden, manche Ereignisse zusammengefasst oder in einen andere Reihenfolge gebracht, so steht es im Nachwort. Trotzdem liegt diesem Buch die reale Biografie eines Afghanistan-Flüchtlings zu Grunde. Spätestens mit diesem Gedanken im Hinterkopf kann man nicht mehr leugnen, dass es große Lücken in der westlichen Abschiebepolitik gibt. Das Thema kann kaum aktueller sein. Gerade bricht, auch mit Blick auf die Anschläge in Oslo oder auf Sarazins Thesen, eine neue Debatte über Migration aus. Gleichzeitig werden die Ängste vor Überfremdung und Islamisierung geschürt. „Der Glücksfinder“ setzt ein deutliches Zeichen dagegen. Der Leser begreift schnell, dass man nicht alle Bürger eines Lands in einen Topf werfen kann und nicht alle Afghanen Taliban sein müssen.
Um die Problematik des Buches insgesamt zu erfassen, ist einiges Vorwissen nötig. Der zehnjährige Hamayun sieht auf der einen Seite viele Dinge für selbstverständlich an. Auf der anderen Seite begreift er manches nicht, weil er nicht in die Gespräche der Erwachsenen einbezogen wird. Der Leser muss in groben Zügen über das Taliban-Regime bis 2001 in Afghanistan Bescheid wissen. Außerdem wird an einigen Stellen auf den 11. September 2001 und den Afghanistankrieg angespielt. Auch hier versteht man mehr, wenn man die Zusammenhänge von Anfang an kennt. Das ist aber auch der einzige negative Punkt, den ich in diesem Buch finden kann.
Das Ende bleibt offen. Es gibt sogar zwei alternative Enden. Das eine ist ein happy end. Das zweite Ende wollte ich zunächst gar nicht lesen. Zu sehr war mir Hamayun ans Herz gewachsen. Beide Enden bleiben recht offen. Das hat mir besonders gut gefallen. Eine Patentlösung passt einfach nicht zum Rest des Buches. Trotzdem war ich sehr erleichtert, als ich im Text über den Autor gelesen habe, dass er eine Aufenthaltsgenehmigung erhalten hat.
„Der Glücksfinder“ regt an über Asylbewerber nachzudenken und genauer hinzusehen. Nachdem man dieses Buch gelesen hat, kann man nicht mehr pauschal über „die Ausländer“ urteilen. Der Roman ist unbedingt weiterzuempfehlen (allerdings ist er eher etwas für ältere Lizzys). Nicht umsonst wird das Buch in den Niederlanden hochgelobt.
*Erschienen im Carlsen Verlag*
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Autorin / Autor: missmarie - Stand: 9. August 2011