Der Idiot, mein Kopf

Von Sophie Könnemund, 19 Jahre

Die Sonne trifft auf mein Gesicht und übersät es mit Wärme. Die Vögel zwitschern und kündigen mit ihrem Gesang einen neuen Morgen an.
Ich will noch nicht aufstehen...
Ich bin müde.

Aber das einfallende Herbstlicht und die eindringenden Geräusche haben kein Erbarmen mit mir und so entschließe ich mich dazu dem Tag eine Chance zu geben und meine Augen zu öffnen. Ich stütze mich von meinem Bett ab und schaue mich in dem Raum, in dem ich mich befinde, um. Plötzlich fährt mir ein Schauer über den Rücken. Alles, von der antiken Kommode bis hin zum hölzernen Schaukelstuhl, kommt mir auf eine grausame Weise bekannt vor, allerdings weckt kein Gegenstand irgendeine Erinnerung. Das einzige, was in mir geweckt wird, ist ein unbehagliches Gefühl.
Schuld, springt es mir in den Kopf. Dennoch liegt Vertrautheit in der Luft, aber Assoziationen bleiben fern.

Ehe weitere Gedanken sich in meinem Kopf verbreiten können, öffnet sich die Tür auf der rechten Seite des Zimmers und es tritt eine Frau, wahrscheinlich Mitte zwanzig, in den Raum ein. Moment. Es ist nicht einfach zu erklären, aber die Aura die von ihr ausgeht ist nicht... menschlich. “Guten Morgen Hr. Nowak, ich hoffe Sie hatten eine angenehme Nacht. Wie geht es Ihnen heute Morgen?”, sagt sie und bleibt kurz vor meinem Bett stehen. “Machen Sie mal halblang! Erstens: Wer sind Sie? Zweitens: Woher kennen Sie meinen Namen? Und Drittens: Wo bin ich hier?”, frage ich empört. Die Frau legt ihren Kopf schief und schaut mich kurz verwirrt an, beginnt aber daraufhin mich sanft anzulächeln: “Es tut mir leid für dieses Missverständnis. Ich werde damit beginnen, die Situation aufzuklären. Sie befinden sich hier in einer Rehaklinik, aufgrund einer neurologischen Erkrankung. Für die Behandlung nehmen Sie Medikamente ein, Erinnerungslücken sind zu erwartende Nebenwirkungen, also müssen sie keine Bedenken haben, falls ihr Gehirn Ihnen mal einen Streich spielt. Ich bin für Ihr Wohlergehen verantwortlich. Ihr persönlicher Freund und Helfer. Ich bin ein Android und laufe unter dem Namen ‘Amica’. Ich stehe rund um die Uhr für Sie zur Verfügung.” Um ehrlich zu sein, ist mir unklar, wie ich reagieren soll, aber meine Intuition sagt mir, dass sie es wirklich gut mit mir meint und dass ich sicher bin. Ich entschließe mich, meine verbleibende Unsicherheit zu überspielen und Amica mein Vertrauen zu schenken. “Sie scheinen die Informationen noch zu verarbeiten. Hätten Sie vielleicht Lust mit dem Frühstück fortzufahren?”
“Ich habe keinen Appetit.”
“Das ist nicht gut! Ein ausgewogenes Frühstück ist die Grundvoraussetzung für einen erfolgreichen Tag.”
In mir liegt das Gefühl, dass sie nicht nachgeben würde. “Meinetwegen.”
“Wie wäre es mit etwas Porridge und frischem Obst?”
Ich bin nicht in der Stimmung mir etwas anderes zu wünschen, daher nicke ich bloß, und im nächsten Moment ist sie schon dabei, das Zimmer zu verlassen, um meine Portion vorzubereiten. Die Schuld bleibt aber.

Nach etwa zehn Minuten kommt Amica mit einer Schüssel und etwas Besteck in den Händen wieder und reicht sie mir, während sie mir einen Guten Appetit wünscht. In der Schüssel befindet sich etwas breiartiges mit vielen Flocken drin, außerdem liegen auf der Oberfläche irgendwelche gelben Scheiben. Es riecht süßlich und wärmt meine Hände, aber ich weiß mit dem Essen vor mir nichts anzufangen. Mal davon abgesehen davon, dass ich keinen Hunger habe, wirkt der Brei vom Aussehen her ziemlich unappetitlich auf mich.
“Was ist das?”, frage ich Amica, die mich schon erwartungsvoll ansieht. “Das ist Ihr Frühstück”, antwortet sie in einem ruhigen Ton.
“Aber wollten Sie mir nicht Porridge bringen?”
“Das ist Porridge.” Nun bin ich verwirrt. “Und was ist das Gelbe?”
“Das sind Bananenscheiben.”
Bananen... ich weiß was Bananen sind, aber warum erkenne ich sie nicht? Die Situation ist schon unangenehm genug, und da ich mich nicht wie ein verwirrtes Kind benehmen will, schiebe ich meine fehlende Erinnerung auf die Medikamente. Es gefällt mir nicht, dass mein Gehirn mich so im Stich lässt. Ich sage “Oh”, und lächele peinlich berührt.

Mittlerweile ist der Mittag angebrochen und ich sitze am Esstisch, in der Küche meiner Wohnung und schaue Amica dabei zu, wie sie die kommende Mahlzeit vorbereitet. Ein herzhafter Geruch liegt in der Luft und bringt meinen Magen dazu, sich in Bewegung zu setzen. Er knurrt und ein Hungergefühl macht sich in mir breit, doch ich weiß, dass es noch eine Weile dauert, ehe das Essen fertig sein wird. Ich erinnere mich daran, dass im Geschirrschrank, der sich auf der linken Seite vom Esstisch befindet, eine Keksdose versteckt ist. Erinnern, schön, dass ich dazu doch noch in der Lage bin. Entschlossen stehe ich auf und versuche unbemerkt den Schrank zu öffnen und mir leise einen Keks zu entnehmen. Alles läuft nach Plan, aber in dem Moment dachte ich nicht an das Knuspergeräusch, was beim Kauen entsteht. Amica dreht sich ruckartig um und schaut mich empört an. “Nicht schon wieder!”

Schon wieder? „Ich habe dir doch gesagt, dass du nicht so viele Kekse essen sollst, schließlich gibt es gleich Mittag.” Hat sie? Mein Gehirn kann mich mal! Kurz darauf tischt sie auf. Auf dem Teller liegt etwas Fleischhaftes zu Essen, das paniert und dazu mit brauner Soße bedeckt ist, daneben liegen zum einen eine gelbliche Kugel mit grünen Streuseln und zum anderen lilafarbenes Kraut. Es riecht herrlich! Ohne nachzufragen, was sich vor mir befindet, beginne ich zu essen und ein wohltuendes Gefühl macht sich in mir breit. Ich lächele zum ersten Mal heute aus vollem Herzen! Auf einmal schießt mir wie ein Blitz ein Gesicht durch meine Gedanken. Eine Frau, die so alt ist wie ich. Ihre Gesichtszüge wecken in mir ein sonderbares Gefühl. Liebe...
Monika!


“Wo ist Monika?”, frage ich die Androidin. “Ihre Frau hat Sie hier in die Rehaklinik gebracht, erinnern Sie sich nicht? Sie hat sich morgen zum Besuch angemeldet.”
“Hast du ein Bild von ihr?”, kurz darauf projiziert Amica ein Bild von Monika, auf dem auch ich abgebildet bin, auf die Wand. Sehnsucht und Schuld breitet sich in mir aus. Eine Träne fängt an sich über meine Wange zu schleichen, ohne dass ich es bemerke. Dann fällt mir etwas anderes auf... Ich habe zugenommen. Mist.
“Danke. Das reicht.” Amica beendet daraufhin die Projektion.
“Vermissen Sie sie?” Ich nicke und beginne in meinem Essen herumzustechen. Kaum zu glauben, dass ein einfaches Gericht so eine Reaktion auslösen kann. Meine Trübsal wird aber schnell durch die Vorfreude auf den kommenden Tag ersetzt. Hoffentlich vergesse ich nichts Wichtiges in der Zeit, wo Monika hier sein wird. Schließlich will ich sie nicht kränken.

Nach dem Mittagessen geht der Tag überraschend schnell dem Ende entgegen und schon ist der Abend da. Amica hat sich den ganzen Tag über mütterlich um mich gekümmert, und ich genoss ihre Anwesenheit. Nun sitzen wir uns gegenüber, und sie beobachtet mich mit Neugier, wie ich dabei bin, mir ein Brot zu schmieren. Brot... Ich bin froh darüber, endlich mal zu wissen, was ich esse. Das Schmieren gestaltet sich allerdings schwieriger als erwartet. Meine Hand beginnt zu zittern, und das Messer fällt mir aus der Hand und landet mit einem Klirren auf dem Boden. “Brauchen Sie Hilfe?”, fragt Amica. Es gefällt mir nicht, dass ich die ganze Zeit so hilfsbedürftig bin, aber es zu leugnen bringt mich auch nicht weiter. Eher unfreiwillig antworte ich also mit ja. Daraufhin kommt sie auf meine Seite des Tisches und hebt das Messer wieder auf, wäscht es ab und schmiert mit Leichtigkeit etwas Butter über das Brot und belegt es mit Käse. Sie reicht es mir ,und ich nicke ihr dankbar zu.

Kaum ist das Abendbrot beendet, überrollt mich eine ungewöhnliche Müdigkeit und ich fange an, mich bettfertig zu machen. Wie immer steht Amica hilfsbereit bei allem daneben. Stets strahlt sie eine intensive Ruhe aus, bei allem das sie tut, was mich schnell entspannen lässt, wenn ich Probleme dabei habe, eine Tätigkeit auszuführen. Als ich im Bett liege, holt sie sich einen Stuhl und setzt sich rechts von mir hin. “Mögen Sie eine Gute-Nacht-Geschichte hören?”, fragt sie mich, wie üblich mit einem sanften Lächeln im Gesicht.
“Kannst du mir die Geschichte vom alten Mann und dem Meer erzählen? Hemingway.”
“Natürlich.”
Warum auch immer, ich will genau diese Geschichte hören und es freut mich ungemein, als Amica damit anfängt die Geschichte vorzutragen. Leidenschaft erfüllt mich und ich lausche ihr gespannt. Plötzlich vernehme ich ein unangenehmes und brennendes Gefühl in meinem Hals. Ich unterbreche sie nur ungern: „Amica, ich habe Halsschmerzen.”
Sie blickt mich mit Sorgen an, sagt aber, dass dies nicht weiter schlimm sei, und dass sie mir morgen ein paar Tabletten geben wird. Ich nicke und sie setzt mit der Geschichte fort. Meine Augen werden schwerer und schwerer und ich verliere mich, ohne es zu merken, in einem schwarzen, endlosen Traum. Nur die Schuld bleibt.



Patient: Viktor Nowak                    Alter: 54 Jahre
Diagnose: Alzheimer-Demenz
Angehörige: Monika Nowak (verstorben)

Statusbericht
Mittwoch, 23. Oktober 2067

Hr. Nowak wachte um dieselbe Uhrzeit wie gewöhnlich auf. Nach dem Eintritt ins Zimmer erkundigte er sich wie gewöhnlich danach, wer ich sei, woher ich seinen Namen kenne und wo er sich befände. Wie meine Programmierung vorschreibt, erklärte ich ihm, dass er auf Reha sei, auf Anweisung seiner Frau hin. Und dass seine Gedächtnisstörungen medikamentenbedingt seien. Appetit ist weiterhin nicht festzustellen. Essen bleibt unerkannt.
Vor dem Mittagessen ging Hr. Nowak fünf Mal zur Keksdose und aß daraus. An seiner Reaktion war zu erkennen, dass er nach jedem Gang vergaß, dass er bereits einen Keks gegessen hatte. Gewichtszunahme ist mittlerweile festzustellen.
Wie jeden Tag weckt das Mittagessen Erinnerungen an seine Ehefrau Monika, welche vor drei Jahren bei einem Verkehrsunfall verstarb. Meine vorinstallierte Antwort wurde abgespielt, als er sich nach ihr erkundigte. Es wurde erfolgreich verhindert, das Hr. Nowak sich daran erinnert, dass er den Verkehrsunfall von Fr. Nowak, aufgrund seiner Demenz, verursacht hat.
Er scheint außerdem seine Gewichtszunahme festgestellt zu haben. Ich schlage vor, die Keksdose vorübergehend an einem anderen Ort zu verstecken.
Am Nachmittag ging Hr. Nowak spazieren. Als er nach einer Stunde nicht zurückkehrte, ortete ich ihn per GPS. Wie zu erwarten war, hatte er sich verlaufen. Bei meiner Ankunft saß er unter einer Weide am See und beobachtete die Fische im Wasser. Auf dem Rückweg erzählte er eifrig, wie sonst auch, über seinen Lieblingsautor, Ernest Hemingway.
Am Abend schien er bereits die Vorkommnisse vom Nachmittag vergessen zu haben.
Beim Abendbrot zeigte er Probleme bei der Benutzung des Messers. Verschlechterung der Motorik registriert.
Er wünschte sich vorm Schlafen “Der alte Mann und das Meer” zu hören. Es ist heute das 1053 Mal, das ich ihm diese Geschichte erzähle.
Kurz vorm Einschlafen klagte Hr. Nowak über Halsschmerzen. Es ist von einer beginnenden Lungenentzündung auszugehen. Verschlechterung des Immunsystems ist registriert und wird in den kommenden Tagen beobachtet.
Insgesamt sind keine Veränderungen seines Alltags festzustellen.

Verbleibende Lebenszeit: voraussichtlich 189 Tage

Täglicher Statusbericht beendet.

Verfasst von: Android Amica    Nummer: 105433


Autorin / Autor: Von Sophie Könnemund, 19 Jahre