„Dieser Roboter ist mit KI ausgestattet und soll in Zukunft in einer unserer Kliniken zum Einsatz kommen. Als Pneumologin sind Sie doch sicher in der Lage, ihm in drei Monaten die Erkennung von einem Bronchialkarzinom beizubringen, oder?“
Mein Chef sieht mich mit ernstem, ja geradezu herausforderndem Blick an, wodurch ich von meiner Nervosität bis in die Fingerspitzen gekitzelt werde. Der Kloß in meinem Hals wird größer und ich schlucke heftig, bevor ich mit heiserer Stimme nachfrage: „L-Lungenkrebs? Er soll Lungenkrebs diagnostizieren?“ „Gewiss.“ Wieder nickt er. Ein stolzes Lächeln bildet sich auf seinen Lippen. „2019 ist uns endlich der Durchbruch zur spezifischen Erkennung eines Bronchialkarzinoms durch künstliche Intelligenz gelungen. Die Datensätze sind bereits in den Roboter integriert, aber es benötigt noch eine Aktivierung seiner Funktionen. Da Sie ja im Moment nicht arbeiten, dachte ich, dass der Job genau der Richtige für Sie ist.“ Ich nicke nur. Zu mehr ist mein von Adrenalin durchgepumpter Körper nicht fähig.
„Natürlich bekommen Sie, falls der Roboter erfolgreiche Arbeit leistet, eine Promotion und viel Anerkennung.“
Das ist mir egal, aber um nicht unhöflich zu wirken, bringe ich meinem großzügigen Chef ein dankbares Lächeln entgegen.
Und damit waren die Formalitäten meiner Arbeit geklärt. Ich war zuerst skeptisch, ob ich dem wirklich zustimmen sollte, doch als ich den Roboter sah, gab es für mich keinen Rückzieher mehr. Denn der Kleine legte seine kalte Hand in meine und sah mich mit den strahlenden Augen eines Kindes an. Ab da hatte ich mich in den Roboter verliebt wie eine Mutter in ihr Kind.
Seit der Übergabe des Roboters sind nun drei Wochen vergangen. Heute ist wieder eine Trainingseinheit für den Roboter, welcher liebevoll Pulmo genannt wird. Pulmo ist lateinisch und bedeutet Lunge.
„Pulmo.“ Ich nehme die computertomographische Aufnahme einer Lunge in die Hand und lege sie vor ihm auf den Küchentisch, „Handelt es sich hierbei um ein kleinzelliges Bronchialkarzinom oder ein nicht-kleinzelliges Bronchialkarzinom?“
Die Augenlider des Roboters flackern und klacken, während sie sich blitzschnell öffnen und wieder schließen. Anhand dieser Reaktion kann ich sehen, dass er meinen Befehl verstanden hat und er nun aufmerksam die CT-Aufnahme auf Anzeichen von Lungenkrebs scannt. Wenige Minuten später verkündet er mir im monotonen Tonfall, dass es sich um SCLC handelt, also ein kleinzelliges Bronchialkarzinom. Ich nicke als Zeichen dafür, dass er richtig liegt und lege ihm die nächste CT-Aufnahme zur Bestimmung vor. Er macht Fortschritte, aber er ist noch lange davon entfernt, Lungenkrebs im frühen Stadium erkennen zu können.
Dabei soll er genau das lernen! denke ich mir und spüre einen Anflug von Enttäuschung, den ich mir nicht erklären kann. Sogleich schüttle ich meine Zweifel von mir. Sie sind in dieser Trainingseinheit fehl am Platz, denn alles läuft nach Plan.
Ein Monat ist die Übergabe von Pulmo mittlerweile her und gemeinsam gehen wir die Hauptstraße entlang, bis wir zu einer Steigerung mit Treppen kommen. In beiden Händen halte ich die vollgepackten Einkaufstüten, gefüllt mit Sachen des täglichen Bedarfes und ein paar Sachen, die ich aus der Apotheke mitgenommen habe. Ich sehe zu meinem Gefährten auf sechs Rollen runter und weiß, dass er die Treppen nach oben nicht schaffen wird. Genauso wenig wie Menschen mit fortgeschrittenem Lungenkrebs es schaffen würden. Deswegen suchen wir nach einer Steigerung ohne Treppen und werden nach fünfminütiger Suche fündig. Passanten sehen uns schräges Duo seltsam an. Die meiste Blicke bleiben aber auf mir stehen. Ist eine Pneumologin mittleren Alters in Begleitung eines Roboters so ungewöhnlich für das Stadtbild? Wahrscheinlich schon, denn die Blicke bleiben starrend wie an Unfallsorten.
Endlich Zuhause angekommen und ich lasse mich erschöpft auf mein gemütliches Sofa fallen. Der Ausflug hat mich fix und fertig gemacht, aber Pulmo scheint im besten Zustand zu sein.
Natürlich, denke ich mir, ein Roboter würde niemals so anfällig für Erschöpfung oder gar Krankheit sein wie ein Mensch.
Gleichzeitig denke ich mir, dass ein Roboter ebenfalls seine Schwäche haben kann. So kann Pulmo keine Emotionen oder Schmerz erkennen. Auch mit der Erkennung von Husten tut er sich schwer; so kann er nicht zwischen einer COPD, einem asthmatischen Husten oder eben dem Husten bei Lungenkrebs entscheiden. Dabei würde für eine frühe Erkennung von Lungenkrebs schon ausreichen, wenn man den dazugehörigen Husten klar von den anderen Hustenarten differenzieren könnte. Jedoch ist weder Mensch noch Maschine dazu fähig.
Ein Monat und ein Halber ist die Übergäbe des Roboters nun her und er macht beachtliche Fortschritte, wenn es um die Erkennung von Lungenkrebs in den späteren Stadien geht. Jedoch zeigt er mir auch heute, dass er immer noch Probleme bei der frühzeitigen Erkennung aufweist. Vielleicht liegt das Problem aber nicht bei ihm, sondern beim Menschen selbst.
Meistens scheitert die Bestimmung der Diagnose nicht am Arzt, sondern am Patienten, der seine Symptome nicht ernst genommen hat und erst mit allmählich schlimmer werdenden Symptomen in die Klinik kommt. Ich kann keinem dieser Menschen einen Vorwurf machen; niemand vermutet Krebs bei sich, wenn man einmal hustet. Wenn ich dann jedoch einen Menschen auf der Straße dauerhaft husten höre, wundere ich mich aber schon, warum derjenigen denn nie in meiner Praxis auftaucht. Vielleicht ist dieser Mensch aber auch nur bei einem meiner Kollegen in Behandlung, vielleicht gehört er aber auch zu der Mehrheit, die ihre Symptomatik nicht ernst nimmt – und das allein entscheidet schon darüber, wie hoch die Heilungschancen sind. Denn wie heißt es so schön: Je früher der Krebs erkannt wird, desto wahrscheinlicher kann er auch besiegt werden.
Nur wie gesagt ist es bei Lungenkrebs nicht einfach. Er schleicht sich heimlich und ohne große Vorankündigung an sein Opfer heran, wie eine blutdurstige Mücke und sorgt vielleicht erst Jahre später in einem der späteren Stadien für Probleme. Nur der Gedanke daran lässt mich Schmerzen in der Brust spüren. Ich lege mir die Hand auf die Brust, atme tief ein und atme die Luft gegen den Widerstand meiner Lippen aus. Pulmo sieht mich an, seine Augen flackern neugierig, aber ansonsten zeigt er keine weitere Reaktion. Er ist eben nur ein Roboter.
Seit zwei Monaten bringe ich Pulmo bei, wie man die verschiedenen Formen von Lungenkrebs auf Grundlage einer Computertomographie oder einer Röntgenaufnahme erkennen kann. Heute führe ich das erste Mal ein Gespräch mit ihm auf Basis eines Arzt-Patientengespräches. Ich bin der Patient und er ist der Arzt, der eine treffsichere Diagnose stellen soll. Dabei soll er vor allem darauf achten, ob der Patient die Symptome von Lungenkrebs schildert oder ob eine weitaus harmlosere Ursache hinter den Beschwerden steckt. Ich fange das Gespräch an.
„Ich habe seit längerer Zeit Husten und Schmerzen in der Brust.“ Ich spreche langsam und deutlich, damit er meine Antworten mit dem Datensatz abgleichen kann. Erst als seine Augen aufhören zu flackern spreche ich weiter.
„Ich habe Atemnot und kann aufgrund dessen keine Treppen mehr steigen.“
Ein Flackern. Dann kein Flackern mehr. Ich rede weiter.
„Selbst in Ruhelage spüre ich Probleme beim Atmen und ein Drückgefühl in der Brust.“
Ich lege die Hand auf meiner Brust, atme kontrollierter. Ich möchte ihn mit der Anspannung in meiner Stimme nicht verunsichern. Andererseits würde er dadurch näher an der Realität lernen, denn Menschen mit Lungenkrebs sind ängstlich; haben Angst vor dem, was in ihnen wie eine tickende Zeitbombe schlummert.
„Die Symptome werden immer gravierender und verschlimmern sich.“
Ich spüre wie mein Puls hoch rast. Meine Pulsadern ziehen sich zu, doch das Blut fließt schneller hindurch. Ich spüre eine hochkommende Angst, welche ich versuche, mit Atemübungen zu überwinden. Pulmo sieht mich wieder an und seine Augen flackern heller als sonst. Die Informationen reichen ihm für eine Diagnose. „Diagnose, bitte“, sage ich unter meinem hastigen Atem, der sich langsam wieder beruhigt.
„Diagnose Lungenkrebs.“
Seine Worte klingen so bedrohlich und doch sind sie wie Musik in meinen Ohren. Sie beruhigen mich, denn jetzt weiß ich, dass er seiner Aufgabe ein Schritt nähergekommen ist. Das Gespräch war zwar stereotypisch angehaucht und kaum vergleichbar mit einer realitätsnahen Simulation, aber es ist ein Anfang. Ein Schritt in die richtige Richtung. Vor glückseligen Erfolg gleitet mir eine Träne über die Wange, die ich mir freudestrahlend aus den Augen reibe. Endlich habe ich wieder Hoffnung nach all dieser Zeit, in der ich diese längst aufgegeben habe.
Zwei Monate und ein halber Monat sind vorbei. Die Trainingseinheit mit Pulmo fällt aus, denn ich bin krank. Eine schwere Bronchitis hat mich seit einer Woche ans Bett gefesselt. In der ganzen Zeit, in welcher es mir schlecht geht, bleibt Pulmo an meiner Seite wie ein treuer Schäferhund. Er kann mir nicht helfen, denn dazu fehlt ihm der Datensatz. Er ist lediglich für die Diagnostik eingestellt. Die Behandlung überlässt er einem Arzt.
Mit Fieber, welches mir zu Kopf steigt, betrachte ich Pulmo. Er ist ganz schön erwachsen geworden in dieser Zeit, auch wenn er sich äußerlich nicht verändert hat. Ich habe mich dagegen stark verändert. Ich habe stark abgenommen, bin aufgrund der Krankheit schwächer geworden und habe nicht die Kraft, mich weiter um ihn zu kümmern. Deswegen kann ich nur hoffen, dass er den Eignungstest am Ende des Monats bestehen wird. Der Gedanke daran lässt mein Fieber höher steigen. Ich schwitze vor Aufregung und Angst. Wird er es schaffen? Wird er wirklich fähig sein, Lungenkrebs im frühen Stadium zu erkennen? Wird er ein erfolgreicher kleiner Roboter sein?
Doch vor allem frage ich mich: Wie werde ich damit umgehen können?
Über zwei Monate hatte ich ihn an meiner Seite und ein Leben ohne ihn kann ich mir nicht mehr vorstellen. Viele Freunde und Bekannte haben sich von mir abgewandt. Ich bin einsam. Ich habe nur noch ihn. Mein Vater ist vor einigen Jahren an Lungenkrebs gestorben, seitdem bin ich allein.
Durch Pulmo hat sich in meinem Leben ein Lichtblick eröffnet, der längst erloschen war. Das Zimmer, in dem ich täglich schlafe und arbeite ist viel heller geworden, seit seine wissbegierigen Augen es mit einem Strahlen erfüllt. Mein Leben hat sich dank ihm zu einem erfüllten, hoffnungsvollen gewandelt. Er ist mein Hoffnungsbringer.
Über das Glück, ihn an meiner Seite zu haben, schlafe ich langsam ein. Meine Brust hebt und senkt sich abnormal. Meine Atmung ist angestrengt und schwer. Mir fällt das Atmen nicht leicht, aber ich lebe.
Heute ist der Tag des Eignungstestes. Mein Zustand ist in den letzten Tagen besser geworden, sodass ich ihn auf den besonderen Tag heute noch etwas vorbereiten konnte. Beim Eignungstest soll er mithilfe eines Körperscans einen Patienten untersuchen, der ganz sicher Lungenkrebs hat. Sollte er Lungenkrebs bei diesem Menschen diagnostizieren, dann ist er für die Klinik zugelassen und kann fortan von den Ärzten dort weiterlernen. Sollte er versagen, dann bleibt der Erfolg, den wir uns erhofft haben, aus. Dann hätte ich drei Monate meines kostbaren Lebens für Nichts verschwendet. Hinsichtlich dieses Gedankens ist meine Aufregung klar ersichtlich. Dennoch versuche ich das Zittern meines Körpers einzustellen und mich zu beruhigen. Unruhe und Angst würden das Ergebnis nur verfälschen.
Trotz der Nervosität, die in meinen Fingerspitzen kribbelt, erhebe ich mich von meinem Platz und stelle mich vor den Roboter. Dann gebe ich ihm den Befehl einen Körperscan durchzuführen. Ich spüre die Röntgenstrahlen auf meiner Brust nicht, dafür aber das überströmende Gefühl von Glückseligkeit und Trauer, als ich seine Worte höre.
„Diagnose Lungenkrebs.“
Durch den Schmerz hindurch lächle ich wie eine Mutter, die ihr groß gewordenes Kind auf dem letzten Schritt des Erwachsenwerdens begleitet.
„Ich bin stolz auf dich, Pulmo.“ Tränen der Freude überkommen mir. „Ich hoffe, dass du eines Tages fähig bist, Lungenkrebs im frühen Stadium zu erkennen, damit Menschen wie ich eine höhere Überlebenschance haben. Ich wünsche mir von ganzem Herzen, dass du ein großartiger Roboter wirst.“
Glücklich falle ich ihm um die Arme, auch wenn er wohl nie verstehen wird, warum ich in diesem Moment so unfassbar glücklich bin.