Einsendung zum Schreibwettbewerb Dr. Futura im Wissenschaftsjahr Gesundheitsforschung
Es ist der 24. März 2054. Centre for health and new life, fünfzehnte Etage, Zimmer Nummer 12235. Evelyn Fischer liegt in ihrem Krankenhausbett und wartet auf den Anästhesisten, der gerade das Zimmer betritt. Der Plan für den Eintritt ihrer Tochter ins Leben wurde bis jetzt genau befolgt. Anfang Juni des letzten Jahres waren sie und ihr Mann zum ersten Mal ins Centre for health und new life gekommen, um sich für das program for birth control and healthy life (kurz PBCHL) anzumelden. Sie und ihr Mann hatten sich zu diesem Zeitpunkt bereits entschieden; sie wünschten sich eine Tochter, die weiß ist, blaue Augen hat, möglichst blonde Haare hat, intelligent ist und ein strahlendes Lächeln hat. Selbstverständlich sollte sie gesund sein und keinerlei Gendefekte oder Veranlagungen zu Genmutationen aufweisen. Der Idealtyp eines Menschen eben. So entstand Lara Fischer, vom PBCHL aus der Eizelle der Mutter und dem Sperma des Vaters zusammengesetzt. Kurz nach dem Anästhesisten betrat ein weiterer Arzt das Zimmer. Er würde den Kaiserschnitt vornehmen. Die Atmosphäre im Raum war entspannt und die Ärzte lächelten Evelyn Fischer an, bevor die Narkose wirkte und sie in einen tiefen Schlaf fiel.
Ebenfalls der 24. März 2054. Centre for health and new life, fünfzehnte Etage, Zimmer Nummer 12236. Magalie Lind liegt in ihrem Krankenhausbett. Aber im Gegensatz zum Nachbarzimmer ist die Stimmung hier nicht so entspannt, denn hier sollte gleich eine Geburt stattfinden, die es so seit über fünf Jahren nicht mehr im Centre for health and new life gegeben hatte. Magalie Lind erwartete ihren Sohn Jannis, der nicht wie alle anderen Kinder über das PBCHL entstanden war, sondern auf natürliche Weise. Und genauso natürlich sollte auch die Geburt verlaufen, Magalie Lind weigerte sich, ihren Sohn per Kaiserschnitt zur Welt kommen zu lassen.
Es ist der 24. März 2060. Evelyn Fischer beobachtet die Schar Kinder, die hinter dem Haus im Garten spielen. Mitten unter ihnen ihre Tochter Lara, die heute ihren sechsten Geburtstag feiert. Das kleine Mädchen wirkt glücklich und fügt sich allein schon rein äußerlich perfekt in die Gruppe der anderen Kinder ein. Alle sind blond, haben strahlend blaue Augen und wenn sie lächeln, schmelzen die Herzen ihrer Eltern am Kaffeetisch. Alles scheint perfekt zu sein.
Ebenfalls der 24. März 2060. Magalie Lind schneidet den Geburtstagskuchen für ihren Sohn Jannis an, während sie mit einem Auge die fünf kleinen Jungen im Garten beobachtet. Die Kinder stecken die Köpfe zusammen und haben sich um einen Erdhügel gescharrt. Magalie muss nicht genau hinschauen, um ihren Sohn zu erkennen, sein dunkler Strubbelkopf sticht hervor. Die Kinder wirken glücklich und unbeschwert.
Es ist der 24. März 2072. Lara Fischer sitzt am Schreibtisch, vor sich ein aufgeschlagenes Mathematikbuch. Heute ist ihr 18. Geburtstag, doch sie hat keine Zeit zum feiern, nächste Woche stehen die Abschlussprüfungen an. Um die Beste zu sein kann sie sich keinen Tag Pause leisten. Durch Intelligenz kann Lara ihre Mitschüler nicht ausstechen, also kämpft sie sich mit Fleiß und Ausdauer an die Spitze.
Jannis Lind verbringt den 24. März 2072, seinen 18. Geburtstag ganz anders. Er feiert ausgelassen mit seinen Freunden. Jannis muss nicht für die Abschlussprüfungen lernen, er wurde schon früh ein Jahr zurück gestuft und wird die Schule erst nächstes Jahr abschließen. Aber das ist okay. Wenn es eine Sache gibt, die ihm seine Mutter beigebracht hat, dann, dass es in Ordnung ist, anders zu sein und dass der Vergleich mit anderen nichts bringt.
Es ist der 24. März 2080. Evelyn Fischer und Magalie Lind sitzen nebeneinander auf einer Ledercouch in einem Fernsehstudio. Gegenüber sitzt der Moderator der Sendung und lächelt die beiden Frauen sanft an. Das Thema der heutigen Sendung lautet: „35 Jahre program for birth control and healthy life – wie hat es uns verändert?“. Der Moderator beginnt seine Fragen zu stellen, um eine Diskussion in Gang zu bringen: „Frau Lind, Sie haben sich, als eine der wenigen Ausnahmen unserer Zeit, gegen das Programm entschieden und ihren Sohn Jannis auf natürliche Weise zur Welt gebracht. Heute würde Jannis 26 Jahre alt werden, können Sie uns erklären, warum er seinen Geburtstag nicht mehr feiern kann?“
„Mein Sohn Jannis ist vor knapp einem Jahr an plötzlichem Herztod gestorben, hervorgerufen durch eine Krankheit, die man Brugada Syndrom nennt. Das ist eine Erbkrankheit, die durch Genmutation entsteht.“
„Frau Lind, genau solche Krankheiten können durch das PBCHL verhindert werden. Trotzdem bereuen Sie ihre Entscheidung, ihren Sohn auf andere Weise bekommen zu haben, nicht.“
„Nein, ich bereue es nicht. Wissen Sie, einige Wochen vor seinem plötzlichen Tod kam mein Sohn zu mir. Er sagte 'Mama, ich bin froh anders zu sein. Du hast mir damit die Möglichkeit gegeben, andere, noch nicht ausgetretene Wege zu gehen. Ich möchte mich bei dir bedanken.' Dieses Gespräch hat mich in meiner Meinung bestätigt, für mich ist das Lebenswerte am Mensch sein die Einzigartigkeit. Hätte ich ein Kind über das Programm bekommen, hätte ich es bestimmt auch geliebt, aber es wäre nicht Jannis gewesen.“
Der Moderator wendet sich jetzt an Frau Fischer, die bisher geschwiegen hat:
„Frau Fischer, auch ihre Tochter würde heute ihren 26. Geburtstag feiern, warum kann sie diesen Tag nicht mehr erleben?“
„Meine Tochter Lara ist vor zweieinhalb Jahren gestorben. Sie hatte Depressionen und ist in den Freitod gegangen.“
„Frau Fischer, Ihre Tochter kam mittels des Programms zur Welt. Sie unterschied sich also nicht von den Anderen ihrer Altersgruppe. Glauben Sie, das hatte etwas mit ihrem Tod zu tun?“
„Ich denke, das spielte auch eine Rolle. Meine Tochter war sehr ehrgeizig, sie wollte aus der Menge herausragen, aber das fiel bei all der Perfektion um sie herum schwer. Ich kann es nicht mit Sicherheit sagen, aber ich glaube, dass sie daran gescheitert ist.“
„Man könnte also sagen, das Programm brachte für Ihre Tochter keine Vorteile mit sich. Trotzdem bereuen auch sie Ihre Entscheidung nicht.“
„Ohne das Programm hätte meine Tochter niemals mit den anderen Kindern mithalten können. Ich wollte ihr nur die besten Voraussetzungen für ihr Leben geben. Daran halte ich weiter fest. Die Maßstäbe, nach denen diese Voraussetzungen heute gemessen werden, kann ich nicht beeinflussen.“