Einsendung zum Schreibwettbewerb Dr. Futura im Wissenschaftsjahr Gesundheitsforschung
2039: E-Mail-Wechsel zwischen der Medizinstudentin Marie und ihrem Bruder Mike, einem Prothesenträger
Liebster Bruder,
sag, wie geht es dir?? Ich verfolge aufgeregt die Nachrichten. Erst gestern hat es wieder einen Anschlag auf ein Lager der Armee gegeben, in dem auch du stationiert bist. Seit einer Woche habe ich nichts mehr von dir gehört. Das mag nichts heißen. Aber dennoch musst du verstehen, dass ich mir große Sorgen mache. Also, bitte, bitte, melde dich, sobald du kannst! Ich vermisse dich. Marie
4 Tage später:
Marie!!!!! Verzeih mir…
Du brauchst dir keine Sorgen zu machen. Ich habe zwar durch die Explosion meine rechte Hand verloren, aber der Militärarzt hier ist sehr gut und ich habe direkt eine neue (künstliche) Hand bekommen. Sie funktioniert einwandfrei. Frag mich nicht, was das für ein Material ist. Die Oberfläche schaut gruselig echt aus. Dr. Gabriel meint, diese neue Prothesen-Technologie sei gerade erst auf den Markt gekommen. Es wurde etwa 10 Jahre lang an ihr geforscht und nun bin ich einer der ersten, der diese hochmoderne Hand tragen darf. Ich fühle mich fast so, als wäre das eine Ehre. Meine alte Hand fehlt mir jedenfalls nicht. Kaum zu glauben: mit der neuen konnte ich schon nach zwei Tagen schreiben. Das ist eine Sensation, sagt der Doktor. Normalerweise hat es Wochen, Monate, früher sogar Jahre, gedauert, bis ein Patient sich an die neue Hand gewöhnt hat, bis er gelernt hat, sie zu steuern. Zwar hat die Operation beinahe 24 Stunden gedauert, aber dafür war sie sehr erfolgreich! Womöglich werde ich schon in einer Woche wieder arbeitsfähig sein. Gerade hat unser Labor ein neues Bakterium isoliert. Bevor wir es aber als neue KEB („Krankheits-Erreger-Bombe“) über den Feinden abwerfen können, muss es noch ausreichend getestet werden…
Wie gern wäre ich jetzt bei dir, aber man erlaubt mir in dieser schwierigen Kriegslage nicht, die Heimat zu besuchen. Ich hoffe, du kannst das verstehen. Im Anhang schicke ich dir ein Foto von meiner neuen Hand, damit auch du sie bestaunen kannst. Fällt dir etwas auf? Meine Lebenslinie ist lang und ausgeprägt ;-) Küsse, Mike
P.S.: Erzähl mir von daheim! Wie geht es der Mutter? Was macht dein Forschungsprojekt?
2 Stunden später:
Nein!!!!!!!!!!!!!!!!! Von der neuen Hand habe ich im Newsspeaker gehört. Da war von einem Soldaten die Rede – von dem „Träger der neuen Herkules-Hand“. Ich freue mich so für dich! Ich habe gelesen, dass diese Hand, wenn dir warm ist, sogar schwitzen kann und wenn dir kalt ist, dann friert sie. Aber trotzdem frage ich mich, ob sich so eine Prothese denn wirklich mit einer echten Hand vergleichen lässt… Spürst du denn da gar keinen Unterschied zwischen der alten und der neuen?
Mama nimmt seit ein paar Tagen ein neues Medikament. Es wirkt sehr gut. Die Tumorzellen werden nach und nach aufgefressen, schon in einem Monat soll der Krebs vollständig zerstört sein – und das ohne Strahlentherapie, wie sie unser Großvater noch hat durchleiden müssen! Aber habe ich dir schon erzählt: Herr Dr. Balz hat nun auch seine Praxis aufgeben müssen. Er hatte einfach zu wenig Patienten, als dass er noch davon hätte leben können. Immer mehr Leute nutzen jetzt die kostenlose internationale Gesundheitsplattform („International Health Community“, kurz IHC) im Internet, auf der man unkompliziert, direkt vom Bett aus, einer Computerstimme sein Leid klagen kann. Ich habe das mal ausprobiert. Ich habe als Krankheit „Erkältung“ angegeben und sollte anschließend ins Mikrofon husten. Daraufhin wurde mir mitgeteilt, ich leide an dem harmlosen D01-Husten. Auf dem Monitor erschien ein Link zur Online-Apotheke, in der ich mir sogleich eine Pille gegen das „unangenehme Reizgefühl im Hals“ kaufen konnte – für nur 14, 50 €, Hauslieferung inklusive. Mutter und ich können darüber nur lachen. Aber ich fürchte, für den Großteil der Bevölkerung ist das längst Normalität pur.
Du hast nach meinem Forschungsprojekt gefragt. Meine Laborgruppe an der Uni hat erst kürzlich wieder Subventionen erhalten, sodass mein Studium sich wohl noch einige Zeit hinziehen wird. Aber das ist natürlich positiv. Noch arbeiten wir an dem Impfstoff, aber schon bald, da bin ich mir sicher, werde ich mit einer großen Gruppe von Ärzten nach Afrika reisen und wir werden den Menschen dort wieder Hoffnung geben. Aids wird mit unserem Impfstoff – und natürlich auch mit Hilfe der neusten Aidsheilmittel – aussterben; daran glaube ich fest!
Ich würde dich besuchen kommen, wenn ich könnte, Mike! Aber das Aidsprojekt ist in seinen letzten Schritten, ich bin der Zukunft meine Arbeit schuldig und der Flugverkehr ist, wie du ja weißt, zurzeit sehr gefährlich.
Liebste Grüße, Marie
PS.: Schreib mir, wie es deiner Hand geht!
8 Tage später:
Hallo Marie,
meiner Hand (und mir) geht es sehr gut. Ich bin heute das erste Mal wieder geflogen. Die neue KEB ist beinahe fertig. Und ich muss sagen, dass ich sehr stolz auf dich bin! Ich glaube, mein kleines Schwesterchen wird es doch noch mal zu was ganz Großem bringen ;-)
Hast du mit Marlene gesprochen? Ich vermisse sie sehr! Sie schreibt, sie kann es kaum erwarten, endlich Kinder zu haben. Ich bin kurz davor, ihr eine Samenspende zu schicken. Man weiß ja nie… Auch meine neue Herkules-Hand macht mich nicht unsterblich. Viele meiner Kameraden haben auf diesem Wege schon eine Familie gegründet. Marlene und ich haben uns immer gewünscht, dass unsere Kinder nicht ohne ihren Vater aufwachsen. Eine künstliche Befruchtung schließt das natürlich nicht aus, aber wenn es uns nicht einmal gelingt, gemeinsam ein Kind zu zeugen, so bezweifle ich, dass es uns möglich sein wird, unser Kind auch gemeinsam großzuziehen. Was meinst du, Marie? Die politische Situation lässt es im Moment einfach nicht zu, dass wir uns sehen. Bitte sage Marlene noch nichts von alldem. Und grüß mir die Mutter!
Ich umarme dich, Marie! Dein Mike