Die Mitternachtsbibliothek
Autor: Matt Haig
Übersetzt von: Sabine Hübner
Nora Seed möchte nicht mehr leben. Wozu auch? Ihr Kater Voltaire ist gestorben, ihren Job im Musikgeschäft hat sie verloren und ihr Musikschüler will keinen Unterricht mehr bei ihr nehmen. Ganz zu schweigen davon, dass ihr Bruder Joey schon seit der Bandauflösung nicht mehr mit ihr redet. An ihren Exverlobten Dan mag sie gar nicht erst denken und mit Izzy, ihrer besten Freundin, hat sie kaum noch Kontakt, seitdem die nach Australien gezogen ist. Nora wird den Eindruck nicht los, in ihrem Leben mehr falsch als richtig gemacht zu haben und so eher eine Last als ein Geschenk für ihr Umfeld zu sein.
Also beendet sie kurzerhand ihr Leben. Oder versucht es jedenfalls.
Das Buch „Die Mitternachtsbibliothek“ startet also nicht unbedingt glückstrunken und doch ist das eines der Gefühle, das in mir beim Lesen ganz stark aufgekommen ist. Matt Haig beschreibt Nora als vielschichtigen, intelligenten Menschen, mit dem man direkt mitfiebert. Und zum Glück kann man das auch eine Weile, denn mit ihrem versuchten Suizid ist die Geschichte keineswegs vorbei.
Zwischen dem Diesseits und dem Jenseits wartet nämlich eine Bibliothek auf sie. Gefüllt ist sie mit den Büchern, die ihr Leben geschrieben hätte, wenn eine ihrer Entscheidungen anders ausgefallen wäre.
Mithilfe des Buchs des Bereuens findet Nora heraus, welche getroffenen und nicht-getroffenen Entscheidungen sie in ihrem Leben besonders bereut, welchen Missgeschicken und verpassten Chancen sie hinterher trauert und welche Wünsche sie sich allzu gern erfüllt hätte. Was wäre passiert, wenn sie damals weiter geschwommen wäre? Was wäre gewesen, wenn sie die Band nicht verlassen oder doch Glaziologin geworden wäre? Wie würde ihr Leben aussehen, wenn sie Dan geheiratet oder Izzy nach Australien gefolgt wäre? Jedes dieser Leben kann Nora ausprobieren.
Und wenn sie eines findet, in dem sie so glücklich ist, dass sie nichts mehr bereut, kann sie da bleiben.
Ganz so einfach ist das natürlich nicht. Denn auch im Leben als Olympia-Schwimmerin, Superstar oder Wissenschaftlerin ist man nicht automatisch glücklich. Und eine einzelne Entscheidung kann zwar einerseits alte Fehler ausmerzen aber gleichzeitig andere Dinge ins Chaos stürzen.
Und so probiert man als Leserin mit Nora zusammen verschiedene Abzweigungen des Lebens aus, das als ihr „Ursprungsleben“ bezeichnet wird. Und mal ehrlich: Wer hat sich nicht schonmal gewünscht, etwas anders machen zu können und sich gefragt, wie das eigene Leben jetzt aussehen würde, wenn man das Instrument aus der Schulzeit nicht aufgegeben, im Sport disziplinierter gewesen wäre oder sich doch für einen anderen Studiengang entschieden hätte?
„Die Mitternachtsbibliothek“ ist ein wunderschönes Buch, das zum Träumen verleitet und einem erlaubt, genau diese Entscheidungen nochmal mit anderen Augen zu betrachten. Und letzten Endes bringt einen dieses Buch vielleicht dazu, sich selbst mit allen Entscheidungen, die man gerne rückgängig machen würde, mit fehlendem oder überschäumendem Engagement und kleinen Macken richtig gerne zu haben. Matt Haig zeigt uns hier, dass eine einzelne Entscheidung unser Leben zwar verändern kann, aber dass das Schwelgen in der Vergangenheit und „Was wäre wenn“ Gedanken uns nicht unbedingt glücklicher machen. Und wer weiß, in einem anderen Leben könnten wir "Die Mitternachtsbibliothek" vielleicht niemals lesen. Und das wäre tatsächlich sehr schade.
*Erschienen bei Droemer HC *
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Autorin / Autor: karla94 - Stand: 12. Februar 2021