Ria ist auf Platz 7 einer Rangliste und damit unter den 10 besten Studenten ihrer Schule. Sie ist behütet, privilegiert und ohne Sorgen aufgewachsen. Sie wird beschützt von einem System, das ihr ganzes Leben geplant und organisiert hat – und ihr niemals einen Grund geben würde, an seiner Richtigkeit und Gerechtigkeit zu zweifeln. Zumindest dachte Ria das; bis sie ein Gespräch belauscht, in dem es darum geht, dass sie und fünf andere Schüler wegen Hochverrats eliminiert werden sollen. Ohne eine Ahnung, weshalb ihr das geschieht und absolut unschuldig glaubt sie an einen Fehler – bis sich die Anzeichen für eine reale und lebensbedrohliche Gefahr immer offensichtlicher häufen und als einzig möglicher Weg die Flucht in das Gebiet der Prims bleibt.
Poznanski erschafft eine Dystopie, die scheinbar unsere Hoffnung auf eine gute Welt nährt aber schon nach kurzer Zeit klar macht, dass unsere Ängste hier hervorgeholt werden. Das System in dem Ria aufgewachsen ist und von dem sie klar überzeugt ist, erscheint hier als große Übermacht, die einen kleinen Teil der Menschen gerettet hat, aber alle anderen zu einem Leben in der Wildnis mit geringen Lebenschancen verbannt.
Nach und nach wird klar, dass es aber noch über diese Selektion hinausgeht und die Autorin schafft es, diese Spannung das ganze Buch über aufrecht zu erhalten. Ein ganz klares Plus hierbei sind die Charaktere, die nicht nur vielfältig, sondern auch tiefgründig sind. Obwohl auf eine bestimmte Art erzogen und aufgewachsen, fehlt es vor allem den sechs Studenten nicht an Individualität und Differenziertheit. Vor allem Ria, aus deren Perspektive der Roman geschrieben ist, erscheint als ein besonderes Mädchen, das klug, willensstark und mutig ist. Ihr gelingt es, mit der Situation, die ihr ganzes Leben umgeworfen hat, umzugehen und einen Weg heraus zu finden. Als ihre Stärke wird die Rhetorik, das Reden, angeführt, aber im Grunde ist es noch mehr, was Ria zu einem Charakter macht, der mich als Zuhörer beeindruckt hat. Sie zeigt eine Stärke, die der Zuhörer gerne besitzen würde und eine gewisse Kaltblütigkeit, der man Respekt zollen muss. Trotz ihrer Angst gelingt es ihr die kritischen Momente zu umschiffen und Leute von sich zu überzeugen. Sie ist eine Figur, wie jeder sie gerne als Vorbild nimmt. Ebenso authentisch sind die verschiedenen Gruppierungen, die in diesem Buch auftreten. Die privilegierten Vertreter des Systems, die gar nicht so primitiven Prims und auch die Studenten haben alle ein gewisses Verhaltensmuster, das sie überzeugend macht. So treten die Systemangehörigen als arrogante, wohlwollende Alleswisser auf, die Prims als Widerstandskämpfer und die Studenten als Leute, die einfach irgendwie dazwischen geraten sind.
Vor allem aber ist es die Art wie Posznanski ihren Roman aufbaut. Sie wirft Fragen auf, die nicht beantwortet werden, weckt Zweifel ohne sie im nächsten Kapitel zu zerstreuen und schürt die Angst auf das was kommen wird, nicht ohne verdeckte Hinweise zu geben. Sie schafft es einen kontinuierlichen Spannungsbogen zu halten, der einen fesselt und es unmöglich macht aufzuhören. Hinter die geheime Fassade zu kommen und das Rätsel, das diesen Roman umgibt, zu lösen, das gelingt während des ganzen Buches nicht. Es ist nicht wie bei vielen anderen dieses Genres, dass die Bösen offensichtlich zu enttarnen sind, und dass man den Finger direkt auf den Ursprung und die Folgen der Machenschaften legen kann. Sind die Hintergründe auch schwer zu erschließen, so scheint der Ablauf der Geschichte im Gegensatz dazu aber doch recht vorhersehbar.
Die Autorin lässt dunkle Stellen, wo andere aufklären, aber folgt dennoch einem altbekannten Schema, das einen auf einen Höhepunkt warten lässt, der ebenso offensichtlich ist. Diesen Höhepunkt verfehlt die Autorin meinem persönlichen Empfinden nach. Zwar gibt es ein Ende, aber es ist ein unbefriedigendes Ende, das gleichermaßen offensichtlich und zu abrupt wirkt. Man versteht in ihrem Roman das Warum nicht und kommt auch nicht drauf, was jetzt eigentlich wieso passiert, aber dass es passiert ist, weiß man aufgrund vorheriger Lektüren dieses Genres. Das Besondere dieses Romans ist die Undurchsichtigkeit der Absichten, sodass in dem Vorhersehbaren noch immer eine versteckte Falle lauern könnte.
Dennoch ist es interessant, wie die Welt in ein paar Jahrtausenden aussehen könnte und was mit der Gesellschaft geschehen wird, wenn nicht jetzt Wert auf ein gemeinsames Miteinander gelegt wird. Außerdem hat die Autorin mit diesem Roman den perfekten Anfang für eine erfolgreiche Buchreihe gelegt, deren nächsten Bände vielleicht aus dem Schema ausbrechen. Das Potenzial dafür haben die weißen Stellen dieses ersten Teiles auf jeden Fall.
Julia Nachtmann macht ihre Sache als Sprecherin ausgezeichnet und getragen durch ihre Stimme hat man wirklich den Eindruck mit Ria die Situation zu erleben. Mit den Pausen an den richtigen Stellen und einer Stimme nüchtern und rau wie die Welt in der Ria sich nach ihrer Flucht befindet. Sie hat die Stimme, um die Emotionen an den Stellen rüberzubringen – ohne aufdringlich zu sein oder dem Zuhörer, die Gefühle vorzusetzen.
Autorin / Autor: LadyJanna - Stand: 19. November 2012