Ein jüdischer Schatz aus dem Mittelalter ist ein Anlass, dass in der heutigen Zeit sich zwei sehr unterschiedliche Menschen begegnen, Laura, eine sehr begabte Zeichnerin und Forschende und Alexej, Spezialist für Geschichte und Eigenmut, der auch Jude ist, dies jedoch genauso wie die Besitzer des jüdischen Schatzes nicht sagen will und kann.
Dem Roman ist ein Zitat von George Santayana vorangesetzt: „Wer sich nicht an die Vergangenheit erinnern kann, ist dazu verurteilt, sie zu wiederholen“. Lauras Mutter ist da das genaue Gegenteil, als Kunsthistorikerin ist es fast so, dass Laura durch sie fast zu viel von der Vergangenheit hört, gerade auch zu dem jüdischen Schatz in Erfurt.
Dennoch beschließt Laura zu genau diesem Schatz die Geschichte per Graphic Novel zu erzählen und geht daher auf Alexej zu, da sie von ihrer Mutter erfährt, dass er neben russischen Wurzeln auch jüdische hat.
Der Roman wechselt zwischen der Gegenwart Lauras und der von Rachel, die damals gemeinsam mit ihrem Vater und dem Bruder Joschua durch ihre Flucht von Erfurt nach Polen vor der Verfolgung jüdischer Menschen (da ihnen die Schuld für die Pestausbrüche gegeben wurde), ihren Schatz verloren. Es ist ein spannendes Wechselspiel, da ein Kapitel der Geschichte Lauras wieder wechselt mit einem über Rachel, auch wird darin aufgezeigt, wie die Vergangenheit in der Gegenwart wirkt. Welche Zusammenhänge es gibt und Entwicklungen. Im Verlauf des Romans ändert sich Lauras Sicht, durch Rachels Geschichte und die Fragen, die sie aufwirft, gerade auch zu dem heutigen Umgang mit jüdischen Menschen. Dies zeigt sich später noch mal mehr in den Nachbemerkungen, in denen deutlich wird, dass viel mehr Fragen nötig wären, warum jüdischen Menschen nie Ruhe hatten und worauf unsere Kenntnisse fußen oder ob sie überhaupt welche sind.
Es ist sehr interessant zu sehen, wie Laura durch die Arbeit an der Graphic Novel mit Menschen, mit denen sie früher gut zurechtkam, nicht mehr kann und umgekehrt so viele tolle neue Menschen dazu kommen. Auch die ganzen Charaktere rund um Laura und Alexej sind wunderbar gezeichnet und machen die Geschichte so bunt und tiefgehend, genauso bei den Kapiteln zu Rachels Geschichte.
Das Besondere an Mirjam Presslers Erzählen ist, dass die Geschichte von Rachel und damit auch all die Grausamkeiten, die Juden seit sehr langer Zeit angetan wurden, so klar sichtbar sind, aber auch alle Feinheiten und Wunder zwischen Menschen und alles, was alle Menschen jeden Tag fühlen, wenn sie etwas berührt. Es ist besonders, wie sie in ihrem Roman einen Ton erzeugt, der den Roman gleichzeitig leicht und voller Wunder und ebenso ernst und sehr betroffen macht.
Besonders ist auch Lauras Blick, als Zeichnerin sieht sie Menschen, Landschaften und auch die Geschichte anders und erzählt sie neu.
“Ich habe dich gefragt, warum du mich überhaupt angesprochen hast.
Eigentlich habe ich erwartet, du würdest sagen: Weil du so gut in Geschichte bist[…] oder du hättest sagen können: Weil du mir gefällst.
[…] Stattdessen hast du gesagt: Weil du Jude bist“.
Der Roman stellt die Frage, wie wir andere Menschen sehen, ob wir Grausamkeiten ansehen können, damit sie nicht mehr so vorkommen, ob wir uns die Fragen stellen, die wichtig sind. Wie wir sehen und ob wir sehen. Es ist fast so, dass ich überlegt hatte, wie ich Alexej beschreibe, da es jedoch vor allem auch um die jüdische Geschichte geht in dem Roman und den Erfurter Schatz, sowie Rachels Geschichte, habe ich vor allem die jüdischen Wurzeln betont. Dennoch mit Zweifeln, die vor allem auch durch den Roman entstanden sind.
Der Roman ist ein Schatz für sich, mit Kostbarem, das sich erst mit der Zeit und Fragen öffnet. Mit Fragen, die Grausamkeiten verhindern können. Und gleichzeitig ein Roman voller Farben, voller Mut, voller eigener Gedanken und Wunder. Ein ganz eigener Schatz.
*Erschienen bei Beltz& Gelberg*
Autorin / Autor: Sabrina Bowitz - Stand: 29. April 2019