Einsendung zum Schreibwettbewerb Dr. Futura im Wissenschaftsjahr Gesundheitsforschung
„Komisch“, dachte er und schaute aus dem Fenster in das Schneetreiben. Dann wieder auf den Laptopbildschirm. Dort stand es, schwarz auf weiß:
„Das Komitee sieht sich nicht in der Lage Ihrem Antrag auf Forschungserlaubnis stattzugeben. Sie haben nicht das Recht dieses Urteil in Frage zu stellen und machen sich bei nicht Beachtung strafbar. Im schlimmsten Fall könnten Sie Ihre gehobenen Menschenrechte verlieren.
Das Komitee für wissenschaftliche Forschung“
Nachdenklich kratzte er sich am Kopf, was hatte er denn getan, dass sie ihm gleich mit dem Entzug der gehobenen Menschenrechte drohten? Das konnten sie doch nicht nur wegen eines einzigen Antrags? Zugegeben, nur selten bat einer darum Forschen zu dürfen, da gab es deutlich besser bezahlte Arbeiten. Aber er hatte schon als Vorschulkind gerne Zusammenhänge hergestellt und die Dinge wissenschaftlich betrachtet.
„Pling!“ Er schrak aus seinen Gedanken hoch, eine neue E-Mail. Ein Aufsatz von einem seiner Schüler über das heutige Gesundheitssystem. Er begann zu lesen. Seine Finger huschten über die Tastatur und färbten den Aufsatz rot. Plötzlich hielt er inne, las einen Satz nochmal und nochmal. Da stand:
„Und nur, weil alle Menschen immer einsatzfähig sind, lässt sich unsere Gesellschaft aufrecht erhalten. Und das haben wir der „Schmerzfrei Leben“ Therapie und der Erhaltungsmedizin zu verdanken.“
Der Schüler hatte ganz eindeutig die gehobenen Menschenrechte, er musste erfolgreiche Eltern haben. Bei ihm selbst war das anders, seine Eltern waren Bauarbeiter gewesen. Da hatte er froh sein müssen nicht als Maßnahme zur Bevölkerungsdezimierung die Menschenrechte entzogen zu bekommen. Dann hätte er nicht zur Schule gehen dürfen, sondern hätte auf den Pflanzungen geholfen. Da würde er jetzt schon lange tot sein. Tja, so war das, einfache Arbeiter hatten keine Menschenrechte und wurden nun mal auch nicht medizinisch versorgt, das lohnte sich nicht.
Irgendwo in ihm kam der Gedanke an Ungerechtigkeit auf, doch er schob ihn beiseite, ganz weit.
Er las den Satz noch einmal. Das „Schmerzfrei Leben“ Programm. Ja, das war auch so eine tolle Erfindung. Da bekam jeder 11 jährige Knabe und jedes 10 jährige Mädel seinen Gesundheitscomputer geschenkt und den Gesundheitschip eingesetzt. Der Computer piepte, wenn es dem Besitzer zu schlecht ging und er zum Arzt musste. Er erinnerte an den jährlichen Gesundheitscheck und heilte kleinere Krankheiten sofort. Alles mit Hilfe von Energiewellen, so hatte man es ihm erklärt als er 11 Jahre alt war.
Doch er glaubte nicht daran.
Die Ärzte taten immer ganz heiter und sagten, es wäre alles kein Problem, doch wenn sie sich unbeobachtet fühlten, schauten sie ihre Patienten manchmal traurig an. Sein Vater hatte ihm kurz bevor er starb ein Familiengeheimnis anvertraut. Seine Familie hatte über Jahrzehnte hinweg verheimlichen können, das sie eine Erbkrankheit weitergab. Auch er sollte sie haben. Ein Freund seines Vaters, der Arzt gewesen war, hatte eine „harmlose“ Erklärung für die mutierten Gene gefunden, so dass er vor der Gesundheitspolizei sicher war. Ein Risiko war das trotzdem, da Menschen mit unheilbaren Krankheiten als „Gesellschaftsverweigerer“ (man ging davon aus, dass sie absichtlich krank wurden) keinerlei Menschenrechte besaßen und meist im Gefängnis endeten.
Und aus den Gefängnissen war noch nie jemand zurückgekommen. Die Erde war überbevölkert, da konnte es sich die Gesellschaft leisten, die Schwächeren auszusortieren.
Sein Vater hatte ihm auch gesagt, dass er deutlich früher als normale Menschen sterben würde, so wie er.
Zuerst hatte er das alles für Humbug gehalten, doch jetzt fiel ihm selber so manches auf. Warum zum Beispiel konnte der Gesundheitschip nur Schmerzen lindern und Energie geben, nicht aber ein Schwindelgefühl verschwinden lassen? Warum wurde immer so getan, als wollten Menschen mit unheilbaren Krankheiten krank sein? Das konnte doch keiner wollen und selbst, als er noch so gerne Schmerzen haben wollte um sich vor der Mathearbeit zu drücken, nichts hatte ihm wehgetan!
Und wenn es stimmte, was seine Mutter ihm mal erzählt hatte, dass nämlich zu Zeiten als ihre Urgroßmutter gelebt hatte, die Menschen nicht selten 80 Jahre alt wurden, waren die dann nicht gesünder als die Menschen heute? Es wurde ja immer groß getönt, diese Zivilisation hat den Krebs besiegt. Und AIDS. Und Cholera.
Was, wenn das alles nur Lügen waren? Irgendworan müssen die jungen Arbeiter in den Elendsvierteln ja sterben! Und dort lebten besonders viele „Gesellschaftsverweigerer“. Konnte das sein? Wurde immer nur betäubt und nie behandelt? Starben die Menschen deshalb so früh?
Wenn das stimmte, hatte dieser Aufsatz eine 6- verdient. Aber woher sollte der Schüler die Wahrheit denn wissen?
Wieder flogen seine Finger über die Tastatur, diesmal schrieben sie grün unter den Aufsatz des Schülers.
Ein Klick und die Mail war verschickt. Sekunden später kam die Antwort, der Schüler glaubte ihm und hatte eine Kettenmail gestartet. Er fragte, ob er ihn als Urheber nennen dürfe. Stolz sagte er zu.
Er stand auf und machte sich einen Kaffee. Als er wiederkam hatte er eine neue Mail bekommen.
Ein anderer Schüler hatte ihn bei der Gesundheitspolizei angezeigt.
Draußen schneite es noch immer. Morgen war der 24. Dezember, arbeitsfreier Zivilisationsfeiertag.
Er hatte vorschnell gehandelt und die Konsequenzen nicht bedacht. Jetzt konnte er nur noch abwarten, den Kaffee trinken und hinaus ins Schneegestöber schauen.
Fliehen hatte keinen Sinn, er wollte sie lieber mit Würde erwarten und für seine Erkenntnis einstehen.