Ein Spiegel für mein Gegenüber
Autorin: Nadire Biskin
Da war er, der Vorfall der Huzurs Leben verändern sollte - oder zumindest dafür sorgte, dass sie vom Referendariat suspendiert wurde. Rassismus ist da, immer und überall, das ist Huzur, die im Wedding aufgewachsen ist, schon lange klar. Mal ist er latent, mal manifest und dieses Mal ist ihr bei der Kollegin, die sich abfällig über das Tragen von Kopftüchern geäußert hat, schlicht der Kragen geplatzt.
Sie hofft darauf, bei ihrer Cousine in der Türkei ihre Batterien aufzutanken, mit frischen Feigen und Oliven versorgt ihre Gedanken zu ordnen. Dort denkt sie nach, genießt die Zeit mit ihrer Familie und den Austausch mit anderen Menschen. Aber auch hier fühlt sie sich wie zwischen den Welten. Während sie in Berlin mit dem „Kopftuchgate“, wie sie die Auseinandersetzung nennt, zu kämpfen hat, wird sie in der Türkei als „Deutschländerin“ und Aufsteigerin mit Uni-Abschluss wahrgenommen und passt nicht so recht dazu.
Zurück in Berlin sieht sie sich mit diesem Bild von sich selbst radikal konfrontiert. Denn schon am ersten Abend zurück in Deutschland lernt sie Hiba kennen, ein zehnjähriges, syrisches Mädchen, das ohne ihre Eltern in Berlin unterwegs ist. Huzur bietet ihr ein Bett und Essen an, sie hilft ihr, die Läuse loszuwerden, die sich auf einer Flucht einnisten und teilt ihr Leben mit dem Mädchen.
Aber wie lange kann das gut gehen? Müsste sie sich nicht direkt beim Jugendamt, der Polizei oder sonst jemandem melden? Huzur ist erschöpft von dem Kopftuchgate, von Rassismus und Klassismus in Deutschland, und auf einmal trägt sie Verantwortung für eine Person, nach der sie nicht gefragt hat. Und doch kann sie Hiba ja nicht einfach wegschicken, weggeben, aus ihrem Leben verbannen. Wo soll die Zehnjährige hin, an wen soll sie sich wenden? Für Huzur bringt das junge Mädchen nicht nur einen Berg an neuen Aufgaben mit, sie lässt die junge Referendarin auch alles hinterfragen: wie sie lebt, welche Entscheidungen sie warum getroffen hat, wie sie auf diskriminierende Äußerungen in ihrem Umfeld reagieren will und was sie mit den Menschen um sich herum verbindet.
Nadire Biskin nimmt uns mit in Huzurs Vergangenheit. Wir erleben ihre Kämpfe mit und um gesellschaftliche Vorstellungen, die in erster Linie für wohlhabende, weiße Menschen konzipiert werden. Wir lesen von Rassismuserfahrungen und klassistischen Einschätzungen. Das alles schafft die Autorin in einem angenehmen, gut lesbaren Schreibstil, der einen nur so durch die Seiten fliegen lässt. Trotz des ernsten und teilweise auch traurigen Themas ist „Ein Spiegel für mein Gegenüber“ ein Buch, das Kraft und Mut schenkt und den Willen, es anders zu machen.
*Erschienen bei dtv Literatur*
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Autorin / Autor: Johanna94 - Stand: 9. August 2022