Ich liege nun seit drei Tagen in meinem Bett. Umgeben bin ich von Taschentüchern. Alle sind nass und gebraucht. Ich habe sie in den letzten Tagen vollgeweint.
Ich will aufhören damit, will mich zusammenreißen. Besonders für meine Eltern. Sie hätten nicht gewollt, dass es mir so schlecht geht. Aber ich habe ja auch nicht gewollt, dass sie sterben. Ich will, dass sie hier sind - bei mir!
Ich fühle mich so allein! Niemand ist mir mehr geblieben, seit meine Eltern vor einer Woche verstarben. Meine Großeltern habe ich nie kennengelernt. Geschwister hatten beide meiner Eltern nicht. Wir waren eine kleine Familie. Und jetzt gar keine mehr. Nur noch ich bin hier.
Und ich werde auch erst einmal hierbleiben. Mit meinen sechzehn Jahren noch in ein Heim zu gehen, das will ich nicht. Ich habe mich stattdessen für die zweite Variante entschieden, den Ersatz-Erziehungsberechtigten.
Gleich wird er hier sein, der Roboter. Er wird meine Eltern ersetzen. Ich finde es schrecklich. Aber gleichzeitig auch gut, denn sonst müsste ich ins Heim. Nur durch den Roboter kann ich im Zuhause meiner Eltern wohnen bleiben und weiter mit meinen Freunden in die Schule gehen. Auch wenn ich das jetzt erstmal noch nicht muss. Ich habe noch eine Woche Zeit, um mich an mein neues Leben zu gewöhnen. Um mich an den Roboter zu gewöhnen, als meinen neuen Erziehungsberechtigten.
Ich habe Angst. Angst davor, mich zu schnell an den Roboter zu gewöhnen. Angst davor, meine Trauer nie mehr los zu werden und auch Angst, meine Eltern zu vergessen. Immer weniger kann ich mich an den typischen Geruch von ihnen erinnern. Oft husche ich in ihr noch nicht neu bezogenes Bett und stecke meine Nase in die Kissen. Dann probiere ich mich an ihre Stimme zu erinnern. Einige Standardsätze klingen mir noch in den Ohren. Der Rest verblasst. Und das schon nach wenigen Tagen.
Wieder schniefe ich vor mich hin, bade minutenlang im Selbstmitleid. Dann höre ich leise die Klingel. Langsam raffe ich mich auf und mache mir noch schnell einen Dutt, um halbwegs passabel auszusehen. Ich schlurfe aus dem Zimmer und öffne die Tür.
Frau Berger vom Jugendamt steht mir gegenüber. Ihre langen, braunen Haare fliegen ein bisschen im Wind umher, dann tritt sie auch schon ein und umarmt mich.
Schnell ziehe ich mich aus der Umarmung zurück. Ich möchte nicht von ihr berührt werden. Ich will viel lieber wieder allein sein. Ich mache das jetzt nur, um hier wohnen zu bleiben. Weil ich mich hier Mama und Papa näher fühle.
Frau Berger dreht sich noch einmal um und schleppt das große Paket in den Hausflur, das bis eben noch hinter ihr stand. Anschließend schließt sie die Tür. Ihr Geruch weht in das Haus und macht mich ganz nervös. Ich möchte, dass sie wieder geht. Ich will hier nichts Fremdes haben.
„Also Clarissa. Dann wollen wir deinen Roboter doch mal herausholen und gemeinsam programmieren“, übergeht sie mein abweisendes Verhalten einfach und öffnet den Karton. Ich sitze aufgeregt neben ihr, eine Gänsehaut breitet sich langsam über meinem gesamten Körper aus. Ich werde gleich das erste Mal das Teil sehen, mit dem ich die nächsten zwei Jahre zusammenlebe. Die Zeit zieht sich endlos lang, während meine Augen wieder feucht werden und mir eine scharfe Sicht auf den Roboter nehmen. Ich sehe nur einen weißen Umriss. Ich blinzle schnell und öffne meine Augen, damit ich ihn sehen kann.
Eigentlich schaut er aus wie alle Roboter. Unten ist er zylinderförmig, oben sitzt eine Kugel mit Augen und Mund. Das heißt zwei schwarze Punkte und eine Öffnung für den Lautsprecher. Auf zwei Rollen unten kann er fahren. Ein kleines, hysterisches Lachen bricht aus mir hervor. Das soll mein neuer Erziehungsberechtigter sein, ehrlich? Dann hätten sie auch einfach nur einen Lautsprecher auf zwei Rollen stellen können. Der Kopf bringt es wirklich nicht.
„Ist etwas?“, fragt mich Frau Berger, erstaunt über mein Lachen.
„Nein. Können wir ihn bitte gleich einstellen?“, frage ich sie daraufhin. Denn je schneller, desto besser.
„Na klar. Also zuerst müssen wir die Verbote eingeben. Du sagst mir einfach, was deine Eltern erlaubt haben und was nicht. Die Gesetze sind schon verankert, Alkohol ist also bereits verboten.“
Denkt sie jetzt, dass ich meinen Frust im Alkohol ersäufe, oder sollte das nur ein Beispiel sein? Ich übergehe es. Es interessiert mich nicht, was sie über mich denkt. Ich habe die Sterblichkeit begriffen und werde mich ganz bestimmt nicht mit ihr streiten, die ich, wenn es gut läuft, höchstwahrscheinlich nie wiedersehe.
„Soll ich jetzt einfach anfangen zu erzählen, oder wie?“, frage ich sie hoffentlich emotionslos. Nach ihrem Nicken beginne ich einfach.
„Bisher durfte ich bis zehn wegbleiben, wollte ich länger, dann musste ich Bescheid sagen.“ Mehr fällt mir schon nicht mehr ein. Welche Regeln sollen denn im Roboter programmiert werden? Und zu viele Regeln will ich auch nicht.
„Hast du dir darüber noch keine Gedanken gemacht, Clarissa?“, fragt sie mich nach meinem Schweigen leicht verunsichert.
Ich schüttle den Kopf. Wann hätte ich das denn machen sollen? Ich war vollauf mit heulen beschäftigt.
„Na gut, dann überlege dir es bitte und gebe es dann in den Roboter ein. Das Ganze wird überprüft und ich vertraue auf dich. Du musst wissen, dass die erste Zeit ein bisschen holprig werden kann. Der Roboter muss sich erst an dich gewöhnen. Je öfter eine Sache passiert, desto einwandfreier wird es klappen“, redet sie drauflos.
„Also dann wollen wir mal. Jetzt kommt der Name vom Roboter. Du kannst frei wählen.“
Kurz denke ich an die Namen meiner Eltern und spüre sofort wieder das Brennen in den Augen. Aber die Namen meiner Eltern wird er nicht bekommen, das ist er nicht wert. Meiner Laune nach entscheide ich mich.
„Volltrottel soll er heißen“, ich kann nicht einmal lächeln, als ich es sage.
„Das geht nicht. Es muss ein echter Vorname sein, Clarissa.“ Sie lächelt mich mitleidig an. Schnell schaue ich auf den Boden. Ich kann dieses Mitleid einfach nicht ertragen, denn es erinnert mich immer nur wieder an meine Situation.
„Ist mir egal, wie er heißt“, teile ich Frau Berger mit. Denn das ist es wirklich. Es wird einfach nur ein Roboter sein, der darauf achtet, dass ich alle Gesetze einhalte.
„Gut, dann schalte ich eben auf Zufallsnamen“, entscheidet sie und drückt auf das Display.
Ein bisschen gespannt bin ich schon, auch wenn ich es nicht zugeben will. Daher lehne ich mich hinüber und schaue auf das Display. Aber das wäre gar nicht nötig gewesen.
„Hallo, ich bin Herbert“, ertönt es aus dem Lautsprecher-Mund. Es ist keine unangenehme Stimme. Ein bisschen beruhigend eher. Aber muss es wirklich Herbert sein? Der Name ist ja mal sowas von altmodisch. Ändern kann ich es aber wahrscheinlich auch nicht mehr. Großartig, dann lebe ich jetzt zwei Jahre mit einem Herbert zusammen. Ach, auch egal.
Ich habe noch keine richtige Vorstellung von dem Ding, aber ich glaube, dass es in der Ecke stehen wird. Dann sagt es vielleicht mal, dass ich ins Bett soll, aber mehr auch nicht. Allerdings werde ich wieder überrascht, denn Herbert spricht weiter.
„Ich werde dir jetzt erzählen, wie wir die nächsten Jahre zusammenleben werden. Wenn du soweit bist, dann drücke bitte auf Start.“
„So, ich würde dann gehen. Den Rest kannst du mit Herbert ausmachen“, verabschiedet sich Frau Berger. Ich nicke ihr zu, dann steht sie auch schon auf und geht mit einem: „Alles Gute noch, Clarissa. Vielleicht sehen wir uns ja in ein paar Jahren wieder.“
Es scheppert, als die Tür hinter ihr ins Schloss fällt. Dann drehe ich mich zu meinem Roboter. Meine Gefühlsmischung aus Angst, Neugier und Trauer lässt mich zögern, doch ich drücke schließlich auf Start.
„Ich werde dein Erziehungsberechtigter sein, aber auch deine Ansprechperson. Vielleicht habe ich keine Gefühle, aber dennoch kann ich dir in schwierigen Situationen Beistand leisten und Tipps geben. Ich werde dir durch meine künstliche Intelligenz fast immer helfen können. Solltest du zum Beispiel Probleme bei den Hausaufgaben haben, dann kannst du die Buchnummer auf dem Display eingeben oder mir buchstabieren. Ich werde nach einigen Sekunden alles über das Thema wissen und in verschieden Ausdrucksweisen wiedergeben können.“ Er legte eine kleine Pause ein.
„Nur im Haushalt kann ich dir nicht helfen. Ab fünfzehn Jahren gibt es das Roboter Angebot, weil man dann fähig ist, die Aufgaben allein zu schaffen, aber du hast ja noch den Putzroboter. Du kannst bei Einsamkeit auch mit mir sprechen. Am Anfang können immer wieder Fehler auftreten, durch ein gemaltes X auf dem Bildschirm kannst du sie aber immer rückgängig machen. Ich werde mich erst auf dich und deine Wohnung einstellen müssen. Dies sollte in der nächsten Woche funktionieren. Je öfter etwas gemacht wird, desto einfacher ist es. Eine ausführliche Bedienungsanleitung findest du im Karton. Hast du sonst noch Fragen?“
Mir hat es die Sprache verschlagen, deshalb ich schüttele den Kopf. Dieser Monolog vom Roboter klang total menschlich. Nicht, als würde dahinter ein Computer stecken.
Dann fällt mir ein, dass der Computer mein Kopfschütteln nicht sehen kann, also will ich anfangen zu sprechen, als er aber auch schon weiterspricht.
„Gut. Sehr gut sogar“, die Stimme verändert sich. Die melodiöse Stimme wird ruppig und der ganze Roboter fängt plötzlich an rot zu blinken.
Sofort weiche ich ein Stück zurück. Das war bestimmt nicht richtig, irgendein Fehler muss aufgetreten sein. Denn die zwei Sätze machen so überhaupt keinen Sinn.
Ich erinnere mich daran, dass ich ein X auf das Display zeichnen soll, wenn irgendetwas falsch ist.
Also wage ich mich Stück für Stück immer dichter an den wild blinkenden Roboter heran. Er fährt nicht weg, aber auch nicht zu mir hin. Daher traue ich mich das Display zu berühren.
Vorsichtig male ich ein X auf das Display und ziehe meine Hand wieder weg, als ein schrilles Lachen ertönt.
Schnell stolpere ich ein paar Schritte zurück und baue Entfernung zu dem Roboter auf. Fast vergesse ich in meiner Angst die Trauer. Dann wird das Lachen leiser bis es schließlich völlig verklingt.
Ich atme schon erleichtert auf, weil auch endlich das Blinken stoppt. Einige Minuten stehe ich noch ruhig neben der Tür und atme bewusst leise. Immer noch bin ich geschockt vom Lachen des Roboters. Aber ich werde mich wohl damit anfreunden müssen.
Vielleicht wollten die Entwickler dem Roboter so einen Charakter geben? Aber das glaube ich nicht.
Langsam gehe ich einen Schritt auf den Roboter zu. Dann bleibe ich vorsichtshalber stehen und schaue, was passiert. Als nichts passiert, gehe ich weiter, bis ich vor ihm stehe. Ich will erneut ein X auf den Monitor malen und beuge mich vor. Aber das, was auf dem Display steht, lässt mich erstarren.
GEHACKT!
Ich keuche erschrocken auf. Sofort ändert sich der Bildschirm.
ERBE GEGEN SCHÖNES LEBEN!
Ich lese die Nachricht dreimal bevor ich sie realisiere. Dann fluche ich. Da ist keine Angst in mir, da ist Wut. Meine Eltern hatten mich immer vor der Unsicherheit der künstlichen Geräte gewarnt.
Einerseits sind sie praktisch und nützlich.
Aber auch gefühllos und manipulierbar.
Ich weiß in diesem Moment noch nicht, was ich jetzt machen will. Aber ich werde Mamas und Papas Erbe nicht wehrlos verlieren. Das steht fest.