"Extremistische Jugendliche sind kein neues Phänomen"
Macht das Internet Jugendliche radikaler? Verstärken soziale Netzwerke extremistische Einstellungen? Diesen und anderen Fragen widmet sich das Forschungsprojekt RadigZ. Im Interview erklären Lena Lehmann, Carl Philipp Schröder und Laura-Romina Goede, wie Extremismus entsteht und was man ihm entgegensetzen kann.
Das Projekt RadigZ beschäftigt sich mit dem Thema Radikalisierung von Jugendlichen im digitalen Zeitalter. Warum nehmen sie ausgerechnet die Gruppe der Jugendlichen ins Visier? Ist zunehmender Extremismus nicht ein gesamtgesellschaftliches Phänomen?
Extremismus ist auf jeden Fall ein gesamtgesellschaftliches Phänomen. Aber viele Studien zeigen, dass die Radikalisierung von extremistischen Menschen oft schon in jungen Jahren anfängt. Jugendliche finden sich in diesem Alter in einer besonderen Entwicklungsphase. Sie lösen sich zunehmend von den Eltern und die Freundesgruppen bekommen mehr Relevanz. Jugendliche sind auf der Suche nach ihrer Identität und versuchen, Grenzen zu testen und ihren Weg und ihren Platz in der Gesellschaft zu finden. Dabei können sie insbesondere empfänglich für extremistische Gruppierungen und Wertevorstellungen sein. Gerade durch Freundesgruppen und Netzwerke kann dann in diesem Alter die Radikalisierung verstärkt werden.
Sind Jugendliche eher gefährdet, sich extremistischen Haltungen und Gruppierungen zuzuwenden als Erwachsene? Und wenn ja warum?
Das kann man nicht so pauschal sagen, aber sicherlich gibt es viele Jugendliche, die gefährliche Gruppen und deren Strategien weniger gut durchschauen können und deswegen darauf anspringen. Außerdem suchen ja die meisten Jugendlichen nach Freunden und Gruppen, in denen sie sich aufgehoben fühlen und Anerkennung erhalten. Sie sind gewissermaßen immer „auf der Suche“. Da haben extremistische Gruppen oftmals leichtes Spiel, und selbst wenn keine konkrete Gruppe vor Ort ist, kann so eine Ideologie, auf die man vielleicht irgendwo im Internet trifft, verführerisch wirken. Zudem sind Jugendliche oftmals auf der Suche nach einfachen Antworten auf die komplexen Fragen des Lebens. Extremistische Gruppierungen bieten diese einfachen Antworten, bspw. indem sie eine Einteilung in schwarz-weiß bzw. Freund-Feindbildern verbreiten.
Gibt es überhaupt Grund zur Sorge, dass mehr Jugendliche sich radikalen Haltungen zuwenden als „früher“?
Erst einmal muss man sagen, dass radikale Haltungen nicht immer schlimm sind. Wir verwenden für problematische Haltungen, die nicht mehr zu tolerieren sind, seien es Einstellungen oder Taten, den Begriff extremistisch. Extremistische Jugendliche sind kein neues Phänomen. Durch neue technologische und gesellschaftliche Veränderungen verändert sich aber auch das Risiko von Jugendlichen, sich extremistischen Gruppen oder Ideologien zuzuwenden.
Welche Rolle spielt das Internet und die sozialen Medien bei der Radikalisierung von Jugendlichen? Werden die Jugendlichen dadurch „verführt“, oder ist schon vorher eine gewisse Einstellung da, die sie zu radikalen digitalen Angeboten hinführt?
Durch neue Kommunikationsmöglichkeiten wie Messenger, Foren im Internet oder andere neue Apps ändert sich natürlich die Strategie derjenigen, die Menschen für ihre (extremistischen) Ziele gewinnen wollen. Viele Online-Dienste bieten die technischen Voraussetzungen, damit Jugendliche schnell mit extremistischen Ideen und den Menschen dahinter in Berührung kommen. Dort treffen sich sozusagen Angebot und Nachfrage, da dort nicht nur Extremisten Versprechungen machen und Jugendliche verführen (Pull-Faktoren), sondern es sind dort auch Jugendliche mit verschiedenen persönlichen Problemen unterwegs, die möglicherweise offen für derartige Inhalte sind. Diese Problemlagen im Leben, die Jugendliche dazu bringen, sich derartigen Themen und Gruppen zu öffnen, nennen wir Push-Faktoren.
Extremistische Gruppierungen, wie bspw. der sogenannte Islamische Staat (IS), entwerfen Videos und Bilder, die gerade Jugendliche ansprechen. Der IS nutzte bspw. in einem Video einen Vergleich zu Online Games und versuchte so den Jugendlichen deutlich zu machen, im IS erlebe man das, was man aus modernen Computerspielen kennt. Solche Videos können Jugendliche sicherlich verführen. Häufig bewegen sich dann die Menschen in sogenannten Filterblasen und werden von gegenteiligen Meinungen und Informationen isoliert.
Haben Sie bei Ihren Untersuchungen Ähnlichkeiten festgestellt bezüglich den Radikalisierungen von zum Beispiel rechtsextrem und islamistisch eingestellten Jugendlichen?
Die gibt es, auch wenn die Phänomene sehr unterschiedlich sind. Die gerade beschriebenen Push-Faktoren sind oft ähnlich. Viele Jugendliche fühlen sich beispielsweise einsam, diskriminiert und ihnen fehlt es an Sinnhaftigkeit im Leben. Extremistische Gruppen ködern dann diese Jugendlichen mit einem starken Gruppengefühl und einem Ziel und die Jugendlichen fühlen sich dort erstmal zugehörig und stark.
Welche Maßnahmen sollten ergriffen werden und sind wirksam, um Radikalisierungsentwicklungen zu stoppen?
Es ist sehr hilfreich, wenn es genügend Angebote für Jugendliche gibt, sich in ihrem Ort Gruppen anzuschließen, die ihnen genau die Sachen bieten, die wir letztendlich alle haben wollen: Anerkennung in einer Gruppe von Freunden, sinnstiftende Freizeitaktivitäten und Spaß im Alltag. Es sollte aber auch Ansprechmöglichkeiten bestehen, wenn ich als Jugendlicher Probleme habe und mich nicht traue, mich an Freunde, Familienmitglieder oder Lehrpersonal zu wenden. Wenn solche Angebote fehlen und Jugendliche alleine gelassen werden, wird extremistischen Gruppierungen das Feld überlassen. Außerdem ist natürlich wichtig, dass Wissen darüber vermittelt wird, wie extremistische Gruppen vorgehen, damit man nicht in deren Fallen tappt. Auch grundlegendes Wissen über Politik und die schlimmen Taten extremistischer Gruppierungen müssen vermittelt werden. Unwissenheit und Fake-News sind natürlich brandgefährlich. Besonders wichtig ist deshalb u.a. auch Wissen über den richtigen Umgang mit Informationen im Internet. Die Kompetenz von Jugendlichen im Umgang mit digitalen Medien fällt nicht vom Himmel, sondern muss erlernt werden.
Und was können Jugendliche tun, die merken, dass ihr Freund/ihre Freundin sich plötzlich radikalisiert?
Erstmal ist es für jeden und jede gut, Freunde zu haben, mit denen man offen reden kann. Manchmal ist es aber auch wichtig, schnell erwachsene Vertrauenspersonen einzuweihen, weil es sich um ein wirklich ernstes Thema handelt. Das können Lehrer/innen oder Eltern sein. Außerdem gibt es viele Beratungsstellen, an die man sich vertrauensvoll wenden kann. Die gibt es beispielsweise, je nach Region, bei Behörden wie Polizei, Verfassungsschutz oder auch bei nichtstaatlichen Organisationen, falls man sich lieber an solche Stellen wenden mag.
*Vielen Dank für das Interview!*
Hier findet ihr Beratungstellen, an die ihr euch wenden könnt
Autorin / Autor: Redaktion und das Team von RadigZ - Stand: 8. November 2019