Nora tut die Auszeit von zu Hause gut. Fern von der Großstadt, zur Untermiete im Haus der alten Irmgard, die Irmi genannt werden möchte, und den ganzen Tag am Strand Drachen verkaufen. Da wird Noras Kopf freier, obwohl ihre Gedanken immerzu rasen und sie oft üble Kopfschmerzen bekommt. Entgegen der Prognose ihrer Mutter, findet sie schnell Freunde, die wie sie den Sommer über am Strand Eis, Caffee oder Popcorn verkaufen. Nur Martin, mit den schönen Händen und den blonden Haaren, der wohnt am Meer und verfängt sich irgendwie in Noras Kopf. Dabei ist Nora sich nicht sicher, ob sie diese Gefühle wirklich zulassen will, ob sie echt sind und wie lange sie halten. Es verspricht ein Sommer zu werden, indem das Drachenmädchen Nora sich vielleicht in noch unbekannte Lüfte hinaufschwingen wird...
*Weit entfernte Sehnsüchte und im Nacken sitzende Ängste*
In “Fern wie Sommerwind” fängt die Autorin geschickt einzelne Momentaufnahmen ein und zeigt, wie flüchtig das Leben sein kann. Das aber gerade das gar nicht schlimm ist, solange man nur im Hier und Jetzt verweilt. Träumereien sind nicht verboten, doch den Bezug zur Realität sollte man nicht verlieren.
Patrycja Spychalski erzählt auch von Sehnsüchten, die weit entfernt und unerreichbar scheinen, von Ängsten, die immer präsent im Nacken sitzen und einem am Leben leben hindern können.
*Authentizität und das intensive Leseerlebnis eines Schwamms*
Hierfür hat die Autorin einen Schreibstil gewählt, der manchmal unglaublich intensiv daher kommt und mir das Gefühl vermittelte, die Autorin wüsste genau, wovon sie spricht und oder würde manche Seiten genau von mir kennen. Mit Nora, die aus der Ich-Perspektive berichtet, liegt also eine authentische Protagonistin vor, die sich trotz einiger Abweichungen vom Herkömmlichen, als Identifikationsfigur eignet.
Patrycja Spychalski schafft es, einem unterschwellig eine warnende und zugleich lockere Botschaft zukommen zu lassen, die nicht den erhobenen Zeigefinger-Charakter besitzt, sondern ein zwangloses Nachdenken ermöglicht. Zeitgleich ist das Lesen unbeschreiblich intensiv und ich fühlte mich manchmal, als sei ich ein Schwamm, der jedes Wort und jeden Satz in sich aufsaugte.
Ein Rätsel birgt “Fern wie Sommerwind” noch dazu. Immer wieder eingeschobene Fragmente einer möglichen Zukunft von Nora, die am Anfang noch offen lassen, was sie sind oder was sie genau bezwecken...
*Und es ist doch überall Sommer?*
Der Roman über das Drachenmädchen beschreibt die Abenteuer während eines heißen Sommers am Meer, was beim momentanen Regenwetter und kalten Temperaturen nicht ferner erscheinen könnte und dennoch eignet sich “Fern wie Sommerwind” sogar an regnerischen Tagen. Denn Patrycja Spychalski hat die Hitze, den Flair des Strandes und die salzige Luft gekonnt gebannt und transportiert sie innerhalb der Geschichte kunstvoll an ihre LeserInnen weiter.
*Sanfte Töne und zarte Saiten*
“Fern wie Sommerwind” lebt von Widersprüchen und eingängigen Gedankengängen der Protagonistin, in denen sich bestimmt viele wiederfinden können. Widersprüche, die reflektiert, gelebt, besprochen und gedacht werden.
Ansprechend werden in dieser Richtung vor allen Dingen die Probleme rund ums Erwachsenwerden sein, die Patrycja Spychalski den Figuren vor die Füße legt und in einem glaubwürdigen Entwicklungsprozess verarbeitet.
Obwohl dieser Roman keinen extrem großen Spannungsbogen besitzt und eher die sanften Töne und zarten Saiten anschlägt, ist er doch etwas ganz Besonderes. Eine subtile Schönheit, die man selten so liest.
Gestört haben mich einige Satzungsfehler im Roman, die der Handlung selbst aber nicht schaden.
*Mein Fazit*
Wer gerne philosophisch angehauchte Romane liest, die in heißen Sommern - untermalt von einer Meeresbrise - spielen, sollte mal einen Blick in “Fern wie Sommerwind” riskieren. Ein Roman, der sich durch seinen schönen Schreibstil, seine vielschichtigen Charaktere und den Hürden auf dem Weg zum Erwachsenwerden auszeichnet und das Feuer besitzt, auch in einem selbst den Funken zu entfachen.
*Erschienen bei cbt*
Autorin / Autor: charlielou - Stand: 27. Mai 2013