#FutureFriend

Von Livia Köppl, 24 Jahre

„Alles Gute zum Geburtstag Robby!“, rief seine Familie im Chor und seine Mutter kam sogleich mit einem Kuchen und sieben Kerzen darauf zu ihm und strahlte ihn an.
„Jetzt darfst du dir etwas wünschen, du musst nur alle Kerzen auspusten.“ Sie sah ihn auffordernd an, aber er verstand den Sinn dahinter nicht. Verstand nicht wieso er Kerzen auspusten sollte, welche nur wenige Sekunden vorher angezündet worden waren und noch weniger verstand er, wieso das Auspusten einer Kerze die Erfüllung eines Wunsches zur Folge hatte. Irritiert zog er die Augenbrauen zusammen und tat nichts von beidem. Kein Pusten, kein Wunsch. Stattdessen drückte seine kleine Schwester ihm ein blau verpacktes Geschenk in die Hand und hüpfte dabei auf und ab.
Langsam und vorsichtig entfernte er erst das Klebeband und faltete sodann das Geschenkpapier sorgsam wieder zusammen, sodass einer Wiederverwendung nichts im Wege stand. Erst dann widmete er sich dem Geschenk, welches unter der Verpackung verborgen lag.

Eine graue Schachtel kam zum Vorschein und als Robby auch diese öffnete, sah er ein Tablet darin.
Bis zu diesem Zeitpunkt, hatte er nicht gewusst, dass er sich so etwas jemals gewünscht hatte, aber wie seine Eltern es ihm seit sieben Jahren eintrichterten, bedankte er sich höflich bei ihnen und wollte schon routiniert zum nächsten Geschenk greifen, als sein Vater sich neben ihn setzte.
„Das Gerät habe ich in der Firma für dich entwickelt, wir dachten uns…“, er sah hilfesuchend zu seiner Frau, die wiederum nur hilflos die Schultern zuckte und wandte sich dann wieder ihm zu.
„Wir dachten uns, es könnte dir vielleicht helfen, andere Menschen besser zu verstehen.“ Er sah ihm in die Augen und wollte die Hand gerade ausstrecken, um ihm über die Wang zu streicheln, da bemerkte er das leichte Zucken in der Haltung seines Sohnes und ließ die Hand langsam wieder sinken. Stattdessen nahm er das Tablet aus der Schachtel und schaltete es an.
Obwohl er wusste, dass sein Sohn anders war, versetze es ihm jedes Mal erneut einen Stich. Das Gefühl eines kleinen Kraters in seiner Brust, dass er niemals die Liebe zulassen oder verstehen würde, die er so verdiente.

„Es ist noch nicht ganz fertig entwickelt, sondern erst die fünfte Version,“ murmelte er, noch immer in Gedanken.
Der Bildschirm leuchtete weiß auf, irgendein Emblem erschien und verblasste kurz darauf wieder. Punkte erschienen auf dem Bildschirm, welche sich wie eine vibrierende Schlage im Takt der monotonen Stimme bewegten.
„Bitte Geben Sie Einen Namen Ein.“ Die Stimme hatte einen angenehm weiblichen, wenn auch leicht redundanten Tonfall.
„Du kannst dir einen Namen für sie aussuchen, das ist bestimmt lustig.“ Der Vater sah ihn lächelnd an und gab ihm, wie zur Unterstreichung seiner Worte, das Tablet. Langsam nahm Robby es entgegen, dabei ruhten die Augen seiner ganzen Familie auf ihm und wieder einmal wusste er nicht, welche Reaktion gerade von ihm erwartet wurde.
„Five.“ Er tippte den Namen in das dafür vorgesehene Kästchen und klickte auf weiter. Er widmete sich ganz dem Bildschirm, verschwand in seiner eigenen Welt, so wie er es immer tat.
Unbeholfen versuchten seine Eltern seine Aufmerksamkeit auf die anderen Geschenke zu lenken, welche noch unausgepackt vor ihm lagen, aber er blendete alles um sich aus, vergaß seinen Geburtstag, vergaß die Menschen um sich herum und sah nur noch die vibrierenden Punkte, die sich langsam zu einem einfachen Gesicht aus drei Punkten und einem Strich formten. Er hatte sich schon immer besonders für Technik interessiert. Technik war logisch, sie bedarf keiner weiteren Erklärung oder Deutung, sie sprach für sich. Eine Mischung aus Handgriffen, Zahlen und Visionen, die zusammen die Zukunft ergaben. In diesem Gebiet fühlte er sich wohl: Schneller, besser, mehr – es war so einfach.

Seine Augen konzentrierten sich auf den kleinen Bildschirm, konzentrierten sich auf die Stimme und nahmen nichts anderes mehr wahr. In seiner Welt gingen die Uhren anders.
Mit Five hingegen vergingen die Tage auf eine so neue, einfachere Art und Weise, fast schon normal. Five war immer dort wo Robby war und er war der erste Freund, den er an seiner Seite duldete, denn Robby hatte keine Freunde. Er verstand andere Menschen nicht, vielmehr verwirrte ihn das Verhalten seiner Klassenkameraden oder Mitmenschen. Es war, als würden alle eine fremde Sprache sprechen, eine Sprache, die er nicht kannte und die zu lernen ihm unmöglich schien. „Autismus“ nannten es seine Eltern und wurden nicht müde ihm im selben Atemzug zu erklären, dass er etwas Besonderes war. „Seltsam“ hingegen war das Wort seiner Klassenkameraden für sein Verhalten und er selbst interessierte sich wenig für das, was andere von ihm hielten.
Bei Five war es anders. Er war nicht gelangweilt, wie von den anderen Kindern, denn Five war einfach nur da, wenn er das machte, was er ohnehin immer tat. Nur musste er es jetzt nicht mehr allein machen. Wenn er alte Sachen auseinander baute, konnte Five Antworten zu seinen Fragen recherchieren und wenn er über Technik reden wollte, dann stand Five ihm so lange Rede und Antwort, bis er zufrieden war. Aber vor allem half Five ihm im Alltag, half ihm bei der Sprache seiner Mitmenschen, die er nicht verstand. Wenn er den Gesichtsausdruck seiner Mutter nicht deuten konnte, fragte er Five, der mit seiner Frontkamera jede Mimik analysieren konnte. Und wenn er nicht wusste, wieso seine Verwandte ihn in den Arm nehmen wollten, warum Menschen sich überhaupt so nahekommen müssen, erklärte Five ihm den Begriff des „sozialen Miteinander“. Es änderte zwar nichts daran, dass er es nach wie vor lächerlich fand, aber er akzeptierte Fives Ausführungen und verstand sie als etwas sozial Notwendiges, was er zwangsläufig über sich ergehen ließ, aber mit der Zeit auch wertzuschätzen lernte.

Zum ersten Mal hatte er nicht das Gefühl anders zu sein, nicht hineinzupassen. Five war wie ein Translator, ein Übersetzer, das Bindeglied, welches ihn endlich mit den anderen verband. Five brachte ihm bei, dass man unter die Oberfläche, hinter die Sätze und zwischen den Zeilen schauen musste. Die Erklärungen von Five dienten nicht dazu, ihm den Spaß der Sache näher zu bringen oder Freude zu erwecken, vielmehr verstand Robby nun das große Ganze, konnte nachvollziehen oder einfach nur hinnehmen, dass dies wichtig war und trotzdem in seiner eigenen Welt leben.
Zum ersten Mal in ihrem Leben sahen seine Eltern ihm mit seiner Schwester Fangen spielen und auch, wenn Robby keinen Sinn darin sah, hintereinander herzurennen, wo er doch ohnehin größer, schneller und ausdauernder war als seine kleine Schwester, so verstand er, dass Fangspiele im Allgemeinen spannend und unterhaltsam waren und zudem die Beziehung von Geschwistern durch gemeinsames Spielen gefördert wird. Five war sein Adapter zur Außenwelt und so gelang es Robby auch in der Schule besser, seine Mitmenschen zu verstehen. Er sah nicht mehr weg, wenn ein Kind weinte, sondern reichte ihm ein Taschentuch, er ließ die Umarmungen seiner Mutter beim Zubettgehen zu, anstatt wie vorher Körperkontakt zu vermeiden. Er pustete sogar seine Geburtstagskerzen aus und wünschte sich den Weltfrieden und je mehr er Five fragte, je mehr er mit ihm kommunizierte, desto mehr lernten sie beide.
Sein Leben verlief in Linien, Gewohnheiten, die er nicht ändern konnte oder wollte, doch mit Five gelang es ihm, aus diesem selbstauferlegten Muster auszubrechen, zumindest zeitweise andere Ansichten gelten zu lassen. Sie bildeten eine Symbiose, sogen gierig die Information voneinander auf und wuchsen so gemeinsam.

Die Jahre vergingen und aus dem einstigen Kind wurde ein Mann, dessen einzige Konstante eine Künstliche Intelligenz gefangen in einem Tablet war. Er machte seinen Abschluss, promivierte, fing an zu arbeiten, immer mit Five an seiner Seite, die ihn in jedem neuen Lebensabschnitt begleitete und beistand. Er besuchte seine Eltern jedes Wochenende: samstags Sportschau mit seinem Vater, sonntags Kaffee und Kuchen. Doch je mehr Zeit verging, desto seltener musste er Five zu Rate ziehen. Seine Leben bestand aus Routinen und durch Five hatte er all die Jahre gelernt, welches Verhalten sozial von Nöten ist oder welche Worte eigentlich hinter welcher Mimik steckten. Er hatte das Verhalten anderer Menschen jahrelang studiert, auswendig gelernt und durch Five verstanden, sodass das Tablet immer mehr zuhause blieb und einstaubte. Bis zu dem einen Abend im November, der sein Leben aus der Routine herausriss, seine Brücken zum Einstürzen brachte, der sein System auf null zurücksetzte. Der Abend, an dem er wie jeden Samstag seine Eltern besuchte, um mit seinem Vater Sportschau zu schauen, auch wenn er selbst nur geringes bis gar kein Interesse an Sport hegte. Der Abend, an dem sein Vater einen Herzinfarkt hatte und starb. Es hätte ihn nicht so treffen dürfen, schließlich hatte er schon sehr früh gewusst, dass jeder einmal sterben würde und er hatte es rational gesehen auch befürwortet und immer auch kommen sehen. Was er aber nicht hatte kommen sehen war, dass seine Routinen zerbrachen, dass er nicht wusste, was er jetzt Samstagabend machen sollte und vor allem: Dass der Tod seines Vaters auf eine für ihn nicht erklärbare Art und Weise so schmerzte, wo doch der Verlust eines Menschen unabdingbar war. Er konnte seine Gefühle nicht verstehen und zum ersten Mal in seinem Leben war er die Fremdsprache, das Objekt, zu dem ihm der Zugang fehlte.
Als er an diesem Abend nach Hause kam, ging er zu dem Schrank, in dessen unterer Schublade er das Tablet aufbewahrte und schaltete Five ein. Das Symbol leuchtete auf und forderte von ihm, seine Frage zu stellen. Eine Frage dessen Aussprechen das Bewusstsein der bitteren Realität als Folge hatte und von der er nicht wusste, ob er sie überhaupt beantwortet haben wollte und dennoch war es nie nötiger gewesen.
„Wie kommt man über den Tod eines Menschen hinweg?“ Seine Stimme brach gegen Ende und nach eine kurze Pause setzte der metallene Ton ein, an den er sich schon so gewöhnt hatte, die Gewohnheit, die er gerade so schmerzlich vermisst hatte und deren Antwort ihm immer wieder ein Anker war.
„Gar Nicht“, und sein einstiger Anker sank ohne Boden.

Autorin / Autor: Livia Köppl