Gefühlskalt

Von Sabrina, 17 Jahre

Ich werde sterben.
Wie in Dauerschleife wiederhole ich den Satz, während ich zittrig die Autotür öffne und mich auf den Sitz fallen lasse. Mein Hals ist wie ausgetrocknet, mein Gesicht glüht. Ich schlucke, mehrmals, doch es hilft nichts. Ich weine nicht. Ich schluchze nicht. Starr sitze ich da. Ich werde sterben, die Ärzte sind sich sicher.
Langsam sickert die Wahrheit zu mir durch. Ich werde nicht mehr lange leben, ich werde meine Kinder nicht aufwachsen sehen, ich werde...
„Sollte ich Sie nach Hause fahren?“
Ich zucke zusammen und mein Blick schnellt zum Lautsprecher. Unwillkürlich ballen sich meine Hände zu Fäusten, eine Wut packt mich. Was soll das Gefrage! Kann ich nicht einen Moment meine Ruhe haben? Ich schlage auf die Sitzpolsterung neben mir, während meine Zähne sich in meine Unterlippe verbeißen, bis ich Blut schmecke.
„Verdammt noch mal!“ Zittrig atme ich aus und versuche mich zu beruhigen. In dem Zustand kann ich unmöglich nach Hause kommen.
„Ist alles in Ordnung mit Ihnen?“, erkundigt sich der Ford Leo verwirrt.
Reiß dich zusammen!
„Ja, alles bestens.“ Meine Stimme zittert.
„Das klingt nicht sehr überzeugend. Was ist passiert? Vielleicht kann ich das Problem lösen.“
Ich schnaube. „Für alles kannst du keine Lösung finden, Leo. Selbst mit deiner künstlichen Intelligenz nicht. Du bist nur ein Auto.“
„Ich wurde lösungsorientiert programmiert und meine Intelligenz übersteigt die eines Menschen. Irgendeine Lösung finde ich immer. Also, was haben die Ärzte gesagt?“
„Woher-“ Ich unterbreche mich. Natürlich weiß er, dass ich beim Arzt war, immerhin stehen wir am Praxisparkplatz. Er hat seine Schlüsse gezogen. Ich zögere, unsicher ob ich ihm etwas sagen sollte. Aber es ist bloß ein Fahrzeug, es ist egal, was ich ihm erzähle. Ich räuspere mich. „Ich habe Creutzfeldt-Jakob.“ Der Kloß in meinem Hals schwillt an. „Ich werde sterben, verdammt. Es gibt keine Operationen, keine Therapien – nichts. Spätestens in einem Jahr bin ich tot.“
Leo schweigt einen Augenblick. „Es gibt einen Heilungsansatz für Creutzfeld-Jakob.“
„Ich habe doch gerade gesagt-“
„Laut Artikel 17 der Februarausgabe der TEME-Onlinezeitschrift für technisch-medizinische Forschung suchen Schweizer Forscher nach Menschen, die unter schweren Gehirnerkrankungen – wie Creutzfeld-Jakob – leiden, um an ihnen Transplantationen mit künstlich intelligenten Gehirnen durchzuführen. Die Risikoeinschätzung liegt relativ hoch, doch wenn die Operationen erfolgreich durchgeführt wurden, sollten diese Personen gänzlich gesund werden.“
„Ja genau, ein Versuchskaninchen sollte ich werden.“ Freudlos lache ich auf. „Bring mich heim und bitte sei still.“
Ohne ein weiteres Wort startet der Motor.

Ich atme tief durch, ehe ich den Schlüssel im Schloss herumdrehe und ins Haus eintrete. Gelächter schlägt mir entgegen, gefolgt von einem frustrierten Aufschrei.
„Das ist nicht fair! Das kann nicht-“ Jonah verstummt, während Amy und Jan noch lauter lachen.
Ich versuche, an dem Kloß in meinem Hals vorbeizuschlucken, während ich mir unruhig die Haare aus dem Gesicht streiche. Wie bringt man seinen Kindern bei, dass man krank ist? Nicht krank, halb tot.
Der Gedanke lässt mich zusammenfahren und mit einem Mal wird mir schwindlig. Ich kralle mich an das Geländer im Vorhaus, versuche irgendwie Halt zu bekommen. Nicht umkippen, bitte, nicht umkippen. Das Herz hämmert mir wild gegen die Brust. Sind das Auswirkungen der Krankheit? Oder die Nerven?
Mein Sichtfeld klärt sich und nach einem Augenblick wage ich es, meine Finger vom Geländer zu lösen. Ich versuche ein paar Schritte und stelle erleichtert fest, dass der Schwindel ausbleibt. Auf dem Weg zum Wohnzimmer spiele ich gedanklich verschiedene Möglichkeiten durch, ihnen von meiner Krankheit zu erzählen; keine erscheint mir richtig. Ich trete ein.
„Questus, überweise fünfhundert Euro von Jonahs Konto zu meinem.“ Amy grinst Jonah über das Spielbrett an.
„Die Überweisung von Jonah zu Amy wurde erledigt,“ erklärt der Spielzeug-Bankomat.
Jan blickt auf. „Mama, du bist zurück. Wie war es beim Arzt?“
„Ganz in Ordnung.“ Ich zwinge mich zu einem Lächeln, mein Herz pocht viel zu schnell. Ich sage es ihnen noch, schwör ich mir. Später. Nur nicht jetzt. Amy und Jonah blicken nur kurz auf, ehe Amy Jan anstößt. „Spielst du jetzt weiter?“
Er wirft mir einen irritierten Blick zu, offensichtlich hat er meine Nervosität bemerkt. Mit einem Kopfschütteln schiebt er seine Gedanken beiseite und nimmt die Würfel. „Ich mach ja schon.“

Gedankenverloren beobachte ich den Dampf, der über meine Tasse Kaffee aufsteigt, während sich meine Finger fester um das heiße Porzellan schließen. Maven sitzt seit fünf Minuten im Auto vor dem Haus, ohne dass er hereinkommt. Was macht er so lange draußen, merkt er nicht, dass ich ihn brauche? Die alte Analoguhr über der Küchentheke tickt viel zu laut, jetzt wo es still im Haus ist. Die Kinder haben sich schlafen gelegt. Noch immer habe ich nicht mit ihnen gesprochen, die richtigen Worte wollten mir einfach nicht über den Mund kommen.
Endlich höre ich, wie die Haustür aufgeht. Ich halte es nicht mehr länger aus, ich springe auf und komme Maven entgegen. Ich falle ihm in die Arme und vergrabe den Kopf in seine Brust.
„Hey. Alles okay?“ In Mavens Stimme schwingt Verwunderung mit. Es kommt nicht oft vor, dass ich ihn so begrüße. Sanft streicht er mir über das Haar.
Ich schlucke, mehrmals, doch ich bringe keinen Ton hervor.
Er hebt mein Kinn an, sodass ich ihn ansehen muss. Seine Augen mustern mich besorgt. „Hey, was ist geschehen? Was hat der Arzt gesagt?“ Als ich immer noch nicht antworte, seufzt er. „Egal was es ist, du schaffst das. Du bist eine Kämpferin, du besiegst jede Krankheit. Wir schaffen das.“
„Creutzfeld-Jakob,“ sage ich rau. „I-ich habe-“
„Creutzfeld-Jakob.“ Er streicht mir beruhigend über die Wange. „Wie sehen hier die Therapien aus?“
„Es gibt keine. Die Krankheit ist unheilbar“ Ich sehe weg, ich kann ihn nicht länger anschauen. Es gibt einen Heilungsansatz. Leos Worte hallen in meinem Kopf wider.
Ich spüre, wie Mavens Herz schneller schlägt. „Was ... natürlich muss es etwas geben. Es gibt doch überall Therapien oder OPs.“
Ich schüttle den Kopf. „Nicht dafür. Es gibt nur-“ Ich breche ab.
„Es gibt nur was?“
„Einen Heilversuch in der Schweiz. Aber der ist verrückt. Ich will kein künstliches Hirn, ich will kein Versuchstier werden.“ Tränen brennen mir in den Augen. „Maven, ich will nicht sterben. Mein Gehirn wird verfallen. Ich werde Sprechstörungen bekommen und kein Gleichgewicht mehr halten können. Und nicht nur das, der Arzt sagt, es schleicht sich wie Demenz ein. Kann sein, dass ich in ein paar Monaten nicht einmal mehr die Kinder erkenne.“
Ich sehe, wie sehr Maven seine Furcht überspielen versucht. „Was ist das für ein Heilungsansatz? Hast du dich damit auseinandergesetzt? Vielleicht ist er gar nicht so schlimm, wie es klingt.“ Er streicht mir eine Träne von der Wange. „Wir schaffen das, egal was kommt.“
Wir verfallen in Schweigen.
„Soll ich es mit den Kindern bereden?“, fragt er schließlich.
„Ja, bitte. Ich kann das nicht.“ Ich atme erleichtert aus. Mein Handy piepst und ich hole es aus der Hosentasche hervor. „Der Akku ist fast leer, ich soll es anstecken.“
Ich gehe ins Wohnzimmer, wobei ich noch einen Blick über die Schulter werfe. Die Angst in Mavens Augen bricht mir das Herz.
Ich stecke das Handy an und zögere. Sollte ich mich nicht zumindest über die Heilmöglichkeit informieren, selbst wenn sie für mich nicht infrage kommt? Meine Finger fahren wie von selbst über das Display, binnen Nanosekunden habe ich den Artikel gefunden. Sie haben die Transplantation bereits an Tieren erfolgreich getestet. Nun, wo das Risiko abschätzbar ist, wollen sie es erstmals an Menschen versuchen. „Helfen Sie der Wissenschaft und die Wissenschaft hilft Ihnen“, endet das Schreiben.
Ich sehe Jonah, Amy und Jan vor mir. Würde ich nicht alles tun, um bei ihnen zu bleiben? Um sie aufwachsen zu sehen? Um bei ihrer Hochzeit zu tanzen und ihre Kinder zu verwöhnen? Tränen treten mir in die Augen.
Vielleicht ist das die Heilung.
Ich schlucke, ehe ich vehement den Kopf schüttle. Nein, ich kann nicht mit einem künstlichen Gehirn leben, das ist verrückt. Ein Hirngespinst irgendwelcher Wissenschaftler.
Andererseits ... was habe ich zu verlieren?
Mit zitternden Fingern wähle ich die Nummer des Institutes.

„Ich kann nicht glauben, dass wir das durchziehen“, sagt Maven und drückt meine Hand.
„I-i-ich auch nicht“, bringe ich hervor.
„Du wirst sehen, die OP wird gutgehen. Du wirst gesund werden.“
Starr blicke ich die Wand mir gegenüber an, ohne etwas wahrzunehmen. Ich weiß nicht, wo ich mich befinde. Heute früh bin ich in diesem Bett aufgewacht, doch ich kann mich nicht erinnern, wie ich hierhergekommen bin. Irgendwann habe ich eine Operation, davon spricht Maven wohl.
Die Tür wird geöffnet und drei Ärzte kommen herein. Sie nicken Maven zu, ehe sie die Fahrsperre meines Bettes öffnen und mit mir aus dem Zimmer rollen. Wo bringen Sie mich hin, will ich fragen, doch ich traue meiner eigenen Stimme nicht. Meine Finger krallen sich in die Bettlaken, während die Gänge an mir vorbeihuschen. Vor einer Tür halten die Ärzte kurz inne. Ich erhasche einen Blick auf das Schild, ehe ich in den Raum geschoben werde.
„Operationsraum“ steht darauf.

Ich lebe. Der Gedanke schießt mir durch den Kopf, kaum dass ich die Augen öffne. Neugierig werfe ich einen Blick durch den Raum. Ein schmutziger Weißton färbt die Wand, in die Ecke haben sie eine Plastikakazie gestellt. Vermutlich sollte es freundlich wirken, doch es verfehlt seine Wirkung. Neben meinem Bett kauert Maven in seinen Stuhl. Sein Kopf ist nach vorne gekippt, seine Augen geschlossen. Er schläft. Vorsichtig fasse ich mir auf die Stirn, taste sie ab, bis ich Kabeln fühle. Dem Gerät nach, das links von meinem Bett steht, überprüfen sie meine Gehirnwerte.
Ich blicke zum Fernseher und fixiere ihn. Innerhalb kürzester Zeit erkennt er meinen Blick und schaltet sich ein. Ich suche mir einen Film heraus und blinzle. Er wird ausgewählt.
Die Tür geht auf und eine Ärztin kommt herein. Ihr Blick streift Maven, ehe sie mich anlächelt. „Frau Moor, Sie sind wach, wie schön. Ich bin ganz begeistert, wie gut Ihre Operation verlaufen ist. Ihre Werte sind hervorragend, soweit wir sie bisher haben.“ Sie spricht leise, vermutlich um Maven nicht aufzuwecken, während sie nähertritt und die Kabeln kontrolliert. „Wie fühlen Sie sich?“
„Bestens.“
Sie überprüft einen Wert auf dem Bildschirm des Gerätes. „Sehr gut. Wir werden Sie noch ein paar Tage hierbehalten. Sollten bis dahin keine Komplikationen auftreten, können Sie nach Hause.“

Kaum, dass ich durch die Tür trete, weht mir der Wind die Haare ins Gesicht. Ich streiche sie hinters Ohr und atme die frische Luft ein. Es ist kühl und der Himmel ist bedeckt, doch das ist mir egal.
Der Ford Leo steht wie besprochen am Parkplatz. Seine Sensoren erkennen mein Gesicht und öffnen automatisch die Tür. Munter lasse ich mich auf die Bank fallen, meine Tasche stelle ich auf den Tisch ab.
„God morgon, Leo. Kör mig hem.“ Ich habe nie Schwedisch gelernt, doch meinem neuen Gehirn wurden 204 verschiedene Sprachen programmiert.
Leo reagiert und fährt heimwärts, wie ich es ihm befohlen habe. „Okaj, klar.“
Ich lehne mich zurück und lasse mir von Leo die neusten Informationen auf Spanisch erzählen. Es kommt mir vor, als würden wir in meiner Muttersprache reden.
Als er aufhört zu sprechen, blicke ich aus dem Auto. Gedanklich ordne ich die verschiedenen Bäume im Vorbeifahren ihrem biologischen Namen und ihrer Gattung zu. Mein neues Gehirn weiß alles.

Kaum ist der Motor abgestellt, umschließen meine Finger den Griff der Reisetasche und ich steige aus dem Auto. Ich eile zum Haus. Es ist wie immer, mit den Blumen seitlich des Eingangs, dem großen Fenster links drüben und der blauen Fassade, doch irgendwie wirkt es anders. Ich bemerke plötzlich, dass die Blüten der Ringelblumen leicht herunterhängen und die Blätter des Apfelbaums kränklich aussehen. Ich muss dringend die Bewässerungsanlage auf verstärktes Gießen umstellen. Ich schüttle den Kopf. Wir sollten endlich eine KI-Bewässerung kaufen, die würde es von selbst erkennen, wenn die Pflanzen zu wenig Wasser haben.
Ich betrete das Haus und höre, wie oben eine Tür zuschlägt. Jonah läuft die Treppe herunter, kommt auf mich zu und umarmt mich. Sein ganzes Gesicht strahlt.
„Mama! Wie geht es dir?“
„Gut.“
Jan kommt hinunter, gefolgt von Amy und Maven. Maven lässt den Kindern den Vortritt, ehe er zu mir kommt und mir einen Kuss gibt. Er lächelt mich an. „Willkommen zu Hause.“
„Danke.“ Ich blicke mich im Haus um. Es ist kühl hier drinnen, ist die Heizung ausgefallen?
„Jetzt lächle doch mal. Freust du dich denn gar nicht, dass du wieder daheim bist?“, sage Maven
Ich starre ihn an. „Wieso freuen? Im Klinikum hatte ich doch auch alles, was man braucht.“
„Naja, aber das hier ist dein Zuhause, hier sind die Kinder um dich. Hier kann ich mich um dich kümmern, bis du dich von der OP erholt hast.“
„Im Klinikum hat man sich auch um mich gekümmert.“ Verständnislos schaue ich ihn an.
Ein verletzter Ausdruck huscht über sein Gesicht. „Bedeutet es dir gar nichts, wieder bei uns zu sein?“
Ich erstarre. Es sollte mir etwas bedeuten. Doch wo sind meine Emotionen, wo ist die Freude? Was ist mit mir los? Bin ich ein gefühlskalter Roboter geworden?
Maven sieht mich einen Augenblick lange an, dann wendet er sich ab. „Okay, ich habe es verstanden.“
„Maven, warte.“ Ich halte ihn am Ellbogen zurück. „Tut mir leid, so war das nicht gemeint. Ich weiß nicht, was mit mir los ist und warum ich keine Gefühle empfinde. Mein Gehirn kann sie momentan nicht verarbeiten, denke ich.“ Ich schlucke. „Ich will wieder etwas fühlen, Maven. Ich will mich freuen können.“
„Deine Emotionen kommen mit der Zeit bestimmt zurück. Wir können doch daran arbeiten.“
Das wird kaum funktionieren. Ich bringe die Worte nicht über die Lippen, obwohl ich es mit plötzlicher Gewissheit weiß. Mein perfekt programmiertes Gehirn kennt die Wahrheit.
Wo beginnt die Technik und wo enden Emotionen?

Autorin / Autor: Sabrina