Wer hilft, wer flüchtet?
Extremsituationen verstärken die individuelle Tendenz, sozial oder egoistisch zu handeln
Denken Menschen in Gefahrensituationen nur an sich selbst? In einer Studie, die in der Fachzeitschrift Nature Scientific Reports erschienen ist, haben Forscher_innen des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung gezeigt, dass Hilfsbereitschaft gerade im Notfall stark von der Persönlichkeit abhängt. Die Ergebnisse zeigen: Die meisten Menschen würden helfen und einige sogar mehr als in harmlosen Alltagssituationen.
In Extremsituationen, so sagt man, zeigt sich die wahre Natur des Menschen. Wissenschaftler_innen am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung haben in einer jüngst publizierten Studie herausgefunden, dass tatsächlich in Extremsituationen nicht nur unsere schlechten, sondern auch unsere guten Eigenschaften ausgeprägter sind. Die Ergebnisse legen nahe, dass besonders soziale und uneigennützige Menschen in Notsituation oft mehr helfen als in Alltagssituationen, während Menschen, die zu Egoismus tendieren, hier weniger hilfsbereit sind. „Notsituationen scheinen somit die ursprüngliche Tendenz zur Kooperationsbereitschaft einer Person zu verstärken“, sagt Mehdi Moussaïd, Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Forschungsbereich „Adaptive Rationalität“ des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung.
Zu diesen Ergebnissen kamen die Wissenschaftler_innen, indem sie 104 Teilnehmer_innen Szenarien am Computer durchspielen ließen. Bei dem von ihnen entwickelten „Helfen- oder Flüchten-Dilemma-Spiel“ mussten die Testpersonen unter finanziellem und zeitlichem Druck in zwei verschiedenen Situationen – einer alltäglichen und einer Gefahrensituation – entscheiden, ob sie Zeit verlieren, um anderen zu helfen, bevor sie zum Ziel kommen oder sich selbst in Sicherheit bringen. Nach dem Spiel machten die Forscher_innen mit den Teilnehmenden einen Test, um ihre soziale Wertorientierung zu bestimmen. Dabei kategorisierten die Wissenschaftler, ob die Probanden eher zu prosozialem Verhalten oder Individualismus tendierten.
Das erste Szenario spielte in einer alltäglichen Situation am Bahnhof. Ziel war es, einen Zug zu erreichen. Der Zeitrahmen für das Spiel war 60 Sekunden. Als Erfolgsbonus lockte 1 Euro, während bei Misserfolg keine Konsequenzen drohten. In der Situation trafen die Probanden auf dem Weg zum Bahnsteig auf acht andere Reisende, die jeweils ihre Hilfe benötigten, um zu ihrem Zug zu finden. Die Probanden hatten die Wahl, per Knopfdruck zu helfen oder das Spiel zu beenden (zu "flüchten"), was in der Realität dem direkten Weg zu ihrem Bahnsteig entsprochen hätte. Ob sie den Zug pünktlich erreichten, bestimmte allerdings im Anschluss der Computer, und zwar abhängig davon, wann die Probanden das Spiel verließen. Das frühzeitige Verlassen des Spiels erhöhte dabei die Erfolgschancen. Umso mehr Menschen sie halfen und umso mehr Zeit verging, desto geringer wurde ihre Chance, das Spiel zu gewinnen.
Das zweite Szenario stellte eine Notsituation in einem Bahnhof dar. Nach einer Explosion musste das Gebäude so schnell wie möglich verlassen werden. Dafür hatten die Probanden lediglich 15 Sekunden und es drohte ihnen der Verlust von 4 Euro, falls sie es in der vorgegebenen Zeit nicht schafften. Bei Erfolg wurde kein Bonus in Aussicht gestellt. Um die Extremsituation zu unterstreichen, wurde die Situation auf dem Bildschirm mit einem rotblinkenden Rahmen dargestellt. Auch hier waren wieder acht andere Reisende eingeblendet, die jeweils Hilfe benötigten, der übrige Spielablauf war wie im ersten Szenario.
Insgesamt betrachtet, halfen alle Testpersonen in der Notsituation weniger, da sie unter Zeitdruck standen. Mit Blick auf den einzelnen Probanden und dessen sozialer Wertorientierung zeigte sich jedoch, dass in der Notsituation eher diejenigen halfen, die zu uneigennützigem und prosozialem Verhalten tendierten. 44 Prozent von ihnen verhielten sich in der Notsituation sogar hilfsbereiter als in der harmlosen Alltagssituation. Bei den Teilnehmer_innen mit eher egoistischem Verhalten war das Gegenteil der Fall: Bei 52 Prozent von ihnen verringerte sich die Hilfsbereitschaft in der Notsituation.
„Unser Spiel bietet einen neuen Weg, menschliches Kooperationsverhalten in Extremsituationen zu untersuchen. Es könnte helfen, Gruppenverhalten während Massenpaniken besser zu verstehen und dies zum Beispiel in Evakuierungspläne einfließen zu lassen“, sagt Mehdi Moussaïd.
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Autorin / Autor: Redaktion/ Pressemitteilung - Stand: 30. September 2016