How to Make Friends with the Dark
Autorin: Kathleen Glasgow
Übersetzt von: Maren Illinger
Was passiert, wenn deine Mutter stirbt:
Ich kann von Glück reden, dass ich meine beiden Elternteile noch habe, beide wohlauf sind, sich lieben und wir uns gut verstehen. Vielleicht hat mich ‚How to Make Friends with the Dark‘ von Kathleen Glasgow (2023, FISCHER) auch deswegen so dermaßen getroffen, weil es ganz anders hätte laufen können.
Die sechzehnjährige Tiger und ihre Mutter June sind eine Einheit. Zwei gegen den Rest der Welt. Als June von einem Tag auf den anderen stirbt, allein und ohne Vorwarnung, ist nichts mehr wie zuvor. Ohne Abschied lässt sie Tiger zurück, die ihre letzten Worte gegenüber ihrer Mutter bereut, sich fragt, wie ihre letzten Sekunden ausgesehen haben, wo sie nun ist und warum. Und was mit ihr passiert, nun, da nichts mehr von ihrem alten Leben übrig ist. Tiger gehört nun zu den etlichen Jugendlichen in der Obhut des Bundesstaats Arizona, stolpert durch Pflegefamilien und Hilfseinrichtungen, bepackt mit der Frage: Wie geht es weiter, wenn ich plötzlich allein auf der Welt bin?
Kathleen Glasgows Romane sind nicht ohne. Das weiß ich seit ‚Mädchen in Scherben‘, aber spätestens nun bin ich mir sicher. Sämtliche Triggerwarnungen sind ernst zu nehmen. Dieser Roman hier rührt zu Tränen und nähert sich einfühlsam einer Thematik, mit der wir uns früher, aber hoffentlich erst später alle befassen müssen. Wir begleiten Tiger durch das bisher düsterste Kapitel in ihrem jungen Leben und fühlen mit, wie schonungslos die Welt sein kann, wenn man als junges Mädchen plötzlich allein dasteht. Zwischen pietätlosen Mischüler:innen, ratlosen und überforderten Erwachsenen, aber auch warmherzigen Persönlichkeiten schlägt Tiger sich durch. Wir lernen sie besser kennen mit all ihren Facetten und sie sich auch. Die Hauptfiguren gewinnen einen unglaublichen Tiefgang im Laufe der Handlung. Und Tigers Erzählstimme lässt uns an ihren Lippen hängen und ihrer Geschichte bis spät in lange Lesenächte hinein lauschen. Besonders die Kapitel, die in der Du-Perspektive verfasst sind, haben einen unglaublichen Nachklang. Denn ja, wie ist es, wenn du die Asche deiner Mutter abholst? Wie ist es, wenn du das Kleid, über das ihr gestritten habt, nun plötzlich nicht mehr ausziehen kannst? Vielleicht kann ich es nun besser nachvollziehen.
Ich glaube, was mich am meisten trifft, ist, dass wir alle Tiger kennen. Tiger ist unsere Mitschülerin, unsere Arbeitskollegin, unsere Vorgesetzte, das Mädchen oder die Frau von nebenan, die eine Verwandte, die Bekannte. Das Leben ist nicht gerecht. Eltern dürfen nicht einfach verschwinden, bevor man selbst auf eigenen Beinen stehen kann. Und doch tun sie es manchmal. Ich hoffe, dass ich ein Stück von Tiger nun mit mir nehme - und viel Verständnis für all die Tigers da draußen.
*Erschienen bei Sauerländer*
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Autorin / Autor: Louisa - Stand: 23. Oktober 2023