Im Namen der Wissenschaft

Von Claudia Alessandra Libbi, 23 Jahre

*Wir hören eine Melodie.* Sie ist etwas seicht und repetitiv, aber angenehm. Das Wetter ist sonnig, die Temperatur liegt etwas über dem monatlichen Durchschnittswert, aber der Unterschied stimmt mit dem allgemeinen Trend überein und ist nicht weiter nennenswert.
Von dem Dachgarten des neuen, glänzenden, sechzehnstöckigen Hochhauses kann man einen Großteil der Stadt beobachten. Dazu zählen einige niedrigere Häuser und Parkanlagen, eine Übersicht der Brücken und Lufttransport Systeme, sowie die hervorragende Sicht auf das Innenleben einiger Wohnungen im fünfzehnten Stock des gegenüberliegenden, glänzenden und ebenfalls neuen Hochhauses.

„Siehst du den Mann da drüben? Dritte Wohnung von rechts.“
Lee streckt ihren Arm aus und zeigt in Richtung der genannten Wohnung (ihre Nägel sind schwarz lackiert und wie immer ist der Lack an den Spitzen beschädigt). Lee arbeitet als Sozialhelferin und kennt die seltsamsten Leute, deswegen erzählt sie die besten Geschichten. Wir finden uns oft hier oben zwischen dem Kräuterbeet und der Solaranlage, weil man von keiner anderen Stelle so viele Menschen beobachten kann wie hier. Statistisch gesehen. Vielleicht kreuzen sich unsere Wege deswegen so oft, weil wir beide logisch denken. Wir mögen Muster, Zahlen und Gewohnheit, solange sich nichts verändert.

„Ich war gestern bei ihm, er sagt, er möchte nicht mehr dort leben“, sie seufzt und verdreht ihren Oberkörper, um einen Knoten im Rücken zu lösen. „Er möchte eigentlich gar nicht leben, da liegt das Problem. Seine Schwester hat angerufen und er konnte es einfach nicht mehr aushalten. Meinte er wäre so einsam, plötzlich traurig über die Weite. Meinte er kenne sie nicht mehr, seine Schwester meine ich, kenne keinen mehr und er hat Angst neue Leute kennen zu lernen, also ruft er mich an. Ich habe Angst, wenn ich nichts von ihm höre, dass er gar nicht mehr anruft. Ich habe kein Geld und die Krankenkasse nimmt sowas nicht ernst, aber ich würde ihm gerne einen von diesen Robotern kaufen. Ich glaube er würde das mögen, weißt du? Wenn er nur die Illusion hätte, mit jemandem befreundet zu sein.“ Lee schüttelt den Kopf und wir beobachten den Mann weiter. Er hat sich seit einer Weile nicht bewegt und starrt aus dem Fenster, als sei er im Geiste wo anders.

„Er hat kein Geld?“
Lee schüttelt den Kopf und lächelt mit dem Mund. Ihre Augen scheinen losgelöst von der Bewegung, ihr Lächeln wirkt unecht. Sie antwortet nicht. Statistisch gesehen muss der Mann etwas Geld haben, um in dieser Wohnung zu leben. Die neuen Hochhäuser sind mit dem neuesten Smart-Home Update ausgestattet und es ist fast unmöglich sich dort unbeaufsichtigt schlecht zu fühlen, zumindest körperlich.
„Nimmt er keine Antidepressiva?“
Wieder schüttelt sie den Kopf. „Nein, er hat so ziemlich alle legalen Drogen verschrieben bekommen und nichts hat funktioniert. Manchmal waren die Nebeneffekte so schlimm, dass der Notfalldienst ihn abholen musste. Geht ja schnell, alles automatisch, aber bringt nichts.“ Lee seufzt, dieses Mal tiefer und löst ihren Blick von der Wohnung mit dem traurigen Mann. Mit erneuter Energie wühlt sie in ihrem Rucksack und zieht eine Dose heraus, daraus einen Schokoriegel. Sie packt ihn erst vorsichtig aus und dann, als würde sie ihm den Hals umdrehen, zerteilt sie ihn und steckt sich eine Hälfte in den Mund. Der Rest schmilzt in ihrer Hand, aber das scheint sie nicht zu stören.

„Lee?“
Sie nickt, aber dreht sich nicht um.
„Darf ich die andere Hälfte haben?“
Dieses Mal lacht sie laut und schüttelt den Kopf. „Du hast ja doch Humor“, sagt sie und schluckt, bevor sie den Rest schnell hinterherschiebt, die Packung zerknüllt und in die Dose fallen lässt. Sie scheint etwas hinzufügen zu wollen, aber möchte nicht mit vollem Mund reden, also verstaut sie den Gedanken im Kurzzeitgedächtnis und lässt ihren Blick wieder über die Wohnungen schweifen.

So vergeht eine halbe Stunde, die Hitze nimmt zu. Wir hatten die Melodie ganz vergessen, aber etwas hat sich verändert (vielleicht der Rhythmus), also dringt sie wieder in unser Bewusstsein ein und wir hören eine Weile zu.
„Ich muss jetzt gehen“, sagt Lee, packt die Dose in ihren Rucksack und schwingt ihn beim Aufstehen über ihre Schulter. Ihre Rückenschmerzen stammen von dieser Gewohnheit, aber es ist schwer daran zu denken. Sie entfernt sich, ohne sich zu verabschieden. Im Hintergrund signalisiert ein leises Surren, dass sich die Tür zum Lift geöffnet und dann hinter ihr geschlossen hat.

In einem anderen Stadtteil, genauer, auf der Ecke zwischen dem Forschungszentrum für Quantenphysik und Lees Lieblingscafé, befindet sich ein alter Automat. Er sollte schon mehrere Male abgeschafft werden, aber aus irgendeinem Grund lehnt er noch immer trotzig an der Wand und schläft. Zwischen einer Pepsi aus dem Jahre 2019 und einem Schokorigel derselben Firma wie dem, den Lee gerne isst, steckt ein Paket. Entweder es wurde von keinem bemerkt oder für nicht bemerkenswert genug gehalten, um es rauszuholen, aber auf eine bestimmte Art und Weise ist das Paket sehr interessant. Man könnte sogar sagen, es sei unglaublich wertvoll. Natürlich kann man das von außen nicht sehen. Es sieht eher aus wie Müll und die Maschine ist sowieso kaputt, es wäre sinnlos, sich zu bemühen. Man müsste das Glas einzuschlagen, aber diese Stelle ist ironischerweise sehr gut bewacht, also ist das ein unwahrscheinliches Ereignis. Das Paket ist sicher.

Wenn man jeden aktuell lebendigen Menschen auf der ganzen Welt fragen würde, ob sie von dem Paket wüssten, würden genau drei mit „Ja“ antworten. Dazu gehört die Person, die das Paket dort versteckt hat, außerdem der vierzehnjährige Sohn von einem der Technischen Assistenten im Forschungszentrum und Lee, die das Paket zwar vergessen hat, aber sich definitiv daran erinnern würde, sollte es je im Gespräch auftauchen.
Es ist statistisch wahrscheinlich, dass sich alle diese drei Menschen und die Wendemaschine in derselben Stadt befinden. Es ist statistisch wirklich sehr, sehr, sehr unwahrscheinlich, dass sie sich treffen, miteinander reden und dann auch noch über das Paket reden. Andererseits nennt man sowas normalerweise Zufall und Zufälle sind wiederrum sehr, sehr, sehr wahrscheinlich. Es ist deshalb leicht vorherzusehen, dass ein Zufall auftreten wird, aber fast unmöglich welcher aller möglichen Zufälle.

Lee hat die Dachterrasse vor einer Stunde verlassen und der traurige Mann hat sich seitdem in sein hypermodernes Bett (voll ausgestattet mit dem neuen Sensorsystem) gelegt und hat den Raum durch Knopfdruck in ein Kino verwandelt. Allerdings läuft im Fernsehen nichts Interessantes und er ist eingeschlafen. Der Raum notiert den Umstand, leitet ihn an einige Fernsehsender weiter und verwandelt sich langsam wieder in ein Schlafzimmer. Sein Wecker wird auf sieben Uhr morgens gestellt und die Jalousien fahren lautlos runter. Anscheinend steht heute nichts mehr in seinem Kalender und er hat einen chronischen Schlafmangel, also werden ihm die extra Stunden guttun. Weitere Werte aus dem Organbereich in Kombination mit seinem bekannten Lebensrhythmus bestätigen, dass er nicht aus Hunger oder Harndrang aufwachen wird. Befriedigt, stellt sich das System in den Standby Modus. Er wird bald die REM-Phase erreichen und sich im Traum daran erinnern, wie er damals regelmäßig die nun veralteten Automaten reparierte und neu auffüllte. Vielleicht, wie eine jüngere Version von ihm ein winziges Paket gut sichtbar zwischen einer Pepsi und einem Schokorigel versteckte.



*Es regnet*, wieder sehen wir Lee. Sie ist auf dem Weg zu einem Treffen mit der Familie einer neuen Patientin. Sie kommt zwei Minuten vor der abgesprochenen Zeit im Café an und sucht sie sich einen leeren Tisch. Der Kellner ist jung und hat gerade einen Wachstumsschub hinter sich. Wir kennen ihn schon. Er ist einer der drei Personen, die von dem Paket wissen. Lee bestellt einen Kaffee, schwarz, ohne Zucker. Der Junge verschwindet hinter der Theke und sie guckt aus dem Fenster, beobachtet die Fußgänger und die neue Straßenbahn. Eines der wenigen Transportsysteme, die noch am Boden verlaufen. Die Straßenbahn gleitet vorbei und Lees Blick fällt auf den Automaten. Sie kann ihren Blick einfach nicht davon lösen, aber es ist unklar, warum. Sie findet, dass man diesen hässlichen Automaten bald abschaffen sollte, denn er passt nicht in die moderne Ästhetik.

Der Junge kommt mit ihrem Kaffee und folgt ihrem Blick, bleibt am Automaten hängen. „Er ist wirklich hässlich, finden Sie nicht?“, fragt er und Lee dreht ihren Kopf zu der unerwarteten Stimme. „Das dachte ich auch gerade. Warum er wohl noch da steht?“
Der Junge versteht, dass die Frage rhetorisch ist und antwortet nicht. Er zeigt zum Fenster. „Der Typ, der gerade davorsteht, kommt jeden Tag. Bleibt dort stehen, lächelt, geht weiter. Ich war neugierig und da ist so ein Paket drin, wirklich klein, sieht aus wie Müll.“ Lees Gedächtnis erzeugt das passende Bild und sie erinnert sich plötzlich. Durch den Regen ist der Mann nicht zu erkennen. „Ob er wohl weiß, was drin ist?“

Der Junge zuckt mit den Schultern. „Vielleicht sollten wir fragen, er ist ja gerade da.“ Lee ist überrascht. Noch nie hat ein Fremder sie aufgefordert, zusammen einen weiteren Fremden anzusprechen, um nach so einer verrückten Sache zu fragen. Die Situation ist so absurd, dass sie zustimmen möchte. „Kriegst du keinen Ärger, wenn du das Café verlässt?“ Der Gedanke scheint ihn nicht zu stören. Lee denkt kurz an die Familie, die sie vor einer Minute treffen sollte. Sie hasst unpünktliche Menschen. Falls die überhaupt noch kommen, haben sie es verdient, auf Lee warten zu müssen.
Sie steht auf und der Junge grinst, sie folgt ihm zur Tür. Beide haben weder Regenjacke noch Schirm, aber das ist in dieser Situation unwichtig. Der Mann steht noch vor dem Automaten und der Weg ist frei, also laufen beide in schnellem Schritt auf ihn zu.

Wir beobachten sie weiter. Die Figuren haben sich fast getroffen, der Junge sagt etwas. Aufdringlich, aber sanft lädt sich die Luft mit Elektrizität und instinktiv ist uns klar, dass sich ein großes und wichtiges Ereignis abspielt, dass jenseits unserer Kontrolle seinen Lauf nehmen wird. Tief aus dem Unterbewusstsein sprosst die Realität aus einem kleinen Samen und wächst mit unnatürlicher Geschwindigkeit. Die Szene verschwimmt, kommt wieder, bleibt für eine Sekunde. Alle Anwesenden haben uns den Kopf zugewendet und scheinen uns konzentriert zu beobachten. Es ist schwer zu erkennen, ob sie verwirrt sind, überrascht, oder ob sie alles verstehen.

„Ende.“ Sagt irgendwer und mit einem letzten Ruck trennt sich der rote Faden. Sofort geht die Welt unter und, entweder in absoluter Dunkelheit oder absolutem Licht, verschmelzen alle Formen mit dem Hintergrund. Die Melodie schwankt, zittert, nähert sich schließlich einem einzigen Ton: Es bleibt ein Tinnitus.


*Zurück*

„Wie geht es dir?“

Für eine halbe Minute bewegt sich Andrej nicht. Ein Arzt ist anwesend, sowie drei Kollegen und ein technischer Assistent, der alles protokollieren soll. Zum Beispiel, dass sofort nach dem Beenden der Simulation eine starke Gänsehaut aufgetreten war und dass Andrej seinen Mund verzogen hatte. Sein Bewusstsein kehrt langsam zurück und er hebt die Hände, bewegt das Headset von seinen Augen. Sein Körper ist noch mit allen Sensoren verbunden, der komplette Ablauf wurde vorher mehrmals besprochen.

„Wir – Uns? Mir. Geht es gut.“

Lee hatte die Frage gestellt und schaut ihn skeptisch an. Sie und Andrej arbeiten schon seit einer halben Ewigkeit zusammen und dieses Projekt ist ihr geistiges Kind, geboren aus einer halb-ernstgemeinten Fantasie, die Zukunft zu simulieren. Eine möglichst komplette, wahrscheinliche Zukunft.

„Ok“, sagt sie und Andrej nickt. Alle sind still, sogar der Assistent hat aufgehört zu schreiben und starrt mit weiten Augen eine Kaffeetasse an. Andrej lacht plötzlich, schüttelt sich und alle lösen sich aus der Starre. „Es war verrückt!“
„Also hat es funktioniert? Hat alles Sinn ergeben?“, Lee greift schnell zum Audio Recorder. Der erste Testlauf ist wichtig, alle Fehler müssen analysiert werden. Ihre Gedanken drehen sich mit zunehmender Geschwindigkeit, aber sie zwingt sich tief durchzuatmen. „Ich glaube schon! Ich weiß nicht“, sagt Andrej und kratzt sich an der Wange, wo das Headset leichte Druckpunkte zurückgelassen hat. „Wie soll ich sagen, ich glaube ich habe mein Bewusstsein mit ihr geteilt.“
„Der KI?“

Andrej nickt und Lees Augen leuchten vor Aufregung. Das hatten sie nicht erwartet, obwohl natürlich vieles unklar war. Das Konzept des Systems war an einem Spiel oder Film angelehnt und sie hatte vermutet, dass Andrej vielleicht zu einem Beobachter wird.
„Es war faszinierend, sie schien mir Dinge zeigen zu wollen und ich wusste instinktiv Sachen, die ich von alleine niemals wissen könnte. Da war ein Paket, ich weiß immer noch nicht was das war, aber wir hätten es fast aufgemacht! Ihr habt mich aber zurückgeholt, so ein Mist. Nächstes Mal lasst ihr mich länger drin, ok?“

Der Arzt schaut beunruhigt zu Lee, die enthusiastisch nickt. Der Assistent löst seinen Blick endlich von der Tasse und schreibt schnell etwas auf.
„Was meinst du, ihr habt das Bewusstsein geteilt? Wie Schizophrenie? Oder als würde in deinem Kopf jemand mit dir reden?“ Andrej schüttelt den Kopf und denkt nach. Irgendetwas beunruhigendes mischt sich in seine Gedanken, aber es ist glitschig, schwer zu greifen. War die KI in seinem Kopf? Es war eher als wäre er bei der KI zu Gast, Teil von ihr. Er hatte keine Kontrolle, aber...

„Nein, ich weiß nicht. Sie war Teil dieser Welt und hat mich in ihr Gehirn aufgenommen, in ihren Körper. Ich konnte mit Leuten reden, etwas passiv. Manchmal hat sich mein Blickwinkel plötzlich verändert und ich habe eine Szene von außen gesehen. Sie hat mir Ausschnitte ihres Lebens gezeigt. Sachen, die sie besonders wichtig und interessant fand, mir zeigen wollte. Wir haben auch mit dir geredet, aber du hattest schwarzen Nagellack.“
Lee zeigt fragend auf sich selber und Andrej nickt. Ihr Mund war im Laufe der Erzählung aufgeklappt, aber sie hat sich wieder gefangen. „Naja, das System wurde ja zum Teil auf unseren Daten trainiert, anscheinend bin ich irgendwie hängen geblieben und sie hat eine Art imperfektes Modell von mir erstellt. Hast du mich sofort erkannt?“
Andrej nickt, aber er ist nun von dem unguten Gefühl abgelenkt. Wo ist sie jetzt, diese Welt? „Ich bin etwas müde, ich glaube ich gehe ins Bett.“
Der Arzt räuspert sich und entfernt die Sensoren. Zwar hat Lee noch Fragen, aber sie weiß, dass die Ethik Kommission nur mit der Anforderung auf strenge, ärztliche Überwachung des Prozesses zugestimmt hatte. Wenn sie den Arzt ignorieren, wird es Probleme mit der Finanzierung geben und das Risiko können sie sich unter keinen Umständen leisten.

Andrej steht auf und der Arzt begleitet ihn zu einem abgetrennten Raum mit einem Bett. Sein Schlaf wird hier überwacht werden. Er legt sich hin, schließt die Augen und lässt seine Gedanken endlich laufen, ohne sie in Worte zu übersetzen. Einige Sekunden vergehen.
Wir hören eine Melodie.

Autorin / Autor: Claudia Alessandra Libbi