Jeder soll von da, wo er ist, einen Schritt näher kommen
Autor: Navid Kermani
Auch wenn der Klappentext zunächst danach klingt - das Buch erzählt keine stringente Geschichte, es geht nicht von A nach B, sondern vielmehr in Zickzacklinien zwischen verschiedenen philosophischen und religiösen Fragen hin und her. Das Konzept des Buchs ist nicht unbedingt neu: Navid Kermani erklärt seiner Tochter das Zusammenspiel von Religionen. Und von Menschen. Er orientiert sein Buch an einem (fiktiven?) Gespräch mit ihr.
Vor allem widmet er sich dem Islam, wie die Familie ihn lebt und liebt. Dafür gräbt Kermani alte Geschichten aus, berichtet vom Zusammenleben und von großen Fragen der Religionsgemeinschaften. Er erläutert, was trennt und was zusammenschweißt, erzählt ihr Anekdoten und bringt ihr die gemeinsame Religion näher. Und sie stellt Fragen, wenn sie etwas nicht versteht und schafft damit direkt Gesprächsstoff für den nächsten Tag.
Kermanis Tochter ist kritisch, sie ist neugierig und sie hinterfragt - alles. Das bietet dem Schriftsteller die Gelegenheit, seine Sicht auf den Islam und andere Religionen zu erläutern, wobei er sich nicht dazu hinreißen lässt, einen Wettkampf der Religionen zu eröffnen. Vielmehr betont er, dass es dafür schon genügend Bücher geben würde- und dass jedes einzelne hauptsächlich erklärt, warum die eigene Religion die "Gewinnerin" ist. Dabei müssten die Religionen gar nicht unbedingt verbittert miteinander ringen, so betont Kermani unermüdlich in seinem Buch. Alle würden am Ende doch das gleiche Ziel anstreben und nur unterschiedliche Wege gehen.
Mich hat das Anekdotenhafte des Buchs zunächst irritiert. Und ich kann mir definitiv nicht jede einzelne religiöse Begegnung, jedes Gleichnis oder Ereignis merken. Und doch habe ich viel mitgenommen aus diesem Buch. Einerseits das Gefühl, dass eine Abkehr von Religion eben durchaus begründet sein kann, aber auch begründet werden sollte. Und dass es auf der anderen Seite für andere Menschen wertvoll sein kann, an eine Gottheit, ganz gleich welcher Art, zu glauben.
Außerdem hat mir die literarische Auseinandersetzung mit den islamischen Suren gut gefallen, die Annäherung durch Lyrik und Prosa macht es einfacher, neue Perspektiven einzunehmen. Und verdeutlicht für mich, als Koran-unerfahrene Person, was gemeint ist, wenn von unterschiedlichen Auslegungen des Korans die Rede ist. Alles in allem ein durchaus gelungenes Buch. Ich bin mir sicher, dass Menschen, die sich schon intensiver mit dem Islam auseinandergesetzt haben, noch ganz andere Erkenntnisse aus diesem Buch mitnehmen, für mich war es ein interessanter Einstieg. Und da Religionen für viele Menschen nach wie vor so ein großer Pfeiler unser Gesellschaft sind, finde ich eine Auseinandersetzung mit diesem Thema auch als nichtgläubige Person durchaus relevant.
Ich kann "Jeder soll von da, wo er ist, einen Schritt näher kommen" all denjenigen empfehlen, die sich intensiver mit Religionen und religiösem Zusammenleben auseinandersetzen wollen aber auch denen, die vielleicht an dem eigenen Glauben (oder Nicht-Glauben) zweifeln. Und denjenigen, die sich für die Entstehung und Vernetzung unterschiedlicher Religionen interessieren, ob sie nun selbst darin verhaftet sind, oder nicht.
*Erschienen im Hanser Verlag*
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Autorin / Autor: Johanna94 - Stand: 29. Juli 2022